DD235: Das Gesetz der kleinen Zahl oder wie man Unverantwortlichkeit als Gerechtigkeit verkauft (März 2015)

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DD235: Das Gesetz der kleinen Zahl oder wie man Unverantwortlichkeit als Gerechtigkeit verkauft (März 2015)

Sie kennen sicher schon das Gesetz der großen Zahlen. Wir lernen das so: Wenn man 1000 Mal eine Münze wirft, kommt fast nie genau 500 Mal Kopf und 500 Mal Zahl heraus, sondern so „ungefähr 500“. Genauer: Wenn ich den Versuch, 1000 Mal eine Münze zu werfen, immer wieder und wieder wiederhole und mir notiere, wie oft ich Zahl geworfen habe, dann bilden die Ergebnisse in einem Diagramm eine Glockenkurve um den Wert 500. Klar?

Als wir unser erstes Kind erwarteten, sagte man uns in etwa auch, dass der ausgerechnete Geburtstermin zwar am wahrscheinlichsten wäre, dass der tatsächliche Termin aber „nach der Glockenkurve“ rund um den berechneten Termin verteilt wäre. Auch klar? Man hat das aus den Daten von Millionen Geburten ersehen können.

Drittes Beispiel: Wenn man Millionen Schüler testet, sind die Testergebnisse auch rund um einen mittleren Wert wie nach einer Glockenkurve verteilt.

Das sind Aussagen von sehr großen Zahlen von Versuchen. Wenn Sie aber „Mensch-ärgere-Dich-nicht“ spielen und auf das Würfeln von Sechsen angewiesen sind, ergibt sich nicht so wirklich eine Glockenkurve, weil bei kleinen Würfelzahlen das System eben noch wie chaotisch aussieht. Wir sprechen von Glück oder Pech. Wenn wir nur ein paar Mal würfeln, gilt das Gesetz der großen Zahl nicht, weil wir eben nur ein paar Mal würfelten! Zu kleinen Versuchsanzahlen sagt das Gesetz absolut NICHTS.

So, jetzt der Stuss, den Nichtmathematiker daraus machen. Wenn Leistungen mehrerer Leute bewertet werden müssen, glauben irgendwie alle, die Noten müssten nach einer Glockenkurve verteilt sein. In einer Klasse von 25 Schülern müssen also viele Dreier oder Vierer haben, nur wenige Einser oder Fünfer. Es gibt – so die Meinung – immer viel Durchschnitt und dazu wenige Spitzenleistungen und wenige Ausfälle. Es wird glatt nicht geglaubt, dass in einer Klasse mal viele Spitzenleute sein könnten und in einer anderen viele Minderleistungen. Nein! Es MUSS immer eine Glockenkurve herauskommen, auch wenn man weiß, dass es gute und schlechte Klassen gibt, gute und schlechte Lehrer und gute und schlechte Schulen. Nein! Bei jeder kleinen Zahl von Leistungsmessungen kommt eine Glockenkurve heraus. „Das ist so.“

Wenn ein Manager anders urteilt als eine Glockenkurve, wenn das ein Lehrer tut oder ein Professor, dann ist er nach allgemeiner Auffassung ungerecht – denn das „Gesetz der kleinen Zahl“ (eine Vorstellung der Schwarmdummheit) besagt, dass IMMER eine Glockenkurve herauskommen MUSS.

Wie kommt es zu dieser Dummheit? Oder ist es keine? Ich denke nach: Viele Lehrer möchten beliebt sein und geben zu gute Noten. Andere wollen Macht demonstrieren und geben zu schlechte Noten. Viele Manager geben zu gute Beurteilungen, denn dann bekommen die Mitarbeiter zu hohe Gehaltserhöhungen und er hat kein Problem, harte und unangenehme Gespräche mit schwierigen Mitarbeitern zu führen. Professoren geben insbesondere für Doktorarbeiten zu gute Noten, dann gibt es keinen Ärger, wenn sie die Doktorarbeit nur lausig betreuen und eigentlich auch nicht lesen. Gute Noten – und alle Probleme sind weg. Wissenschaftliche Gutachter akzeptieren die Publikation im Zweifelsfall – kein Ärger. Ich stelle fest: Es gibt viele Gründe dafür, dass Herrschende ganz banal ungerecht agieren.

Und es wird wohl so sein, dass nun die Hüter der Systeme Gegenmaßnahmen ergreifen. Wenn ein Religionslehrer immer nur „sehr gut“ gibt, ist das gerecht? Kennt er die Bibelstelle mit den Talenten nicht? Wenn ein Professor mit „summa“ um sich wirft, was soll das? Wenn ein Manager die Gehälter aus dem Füllhorn gießt, wenn plötzlich alle Leute ganz toll sein sollen, dann stimmt etwas nicht!

Aus Feigheit vor Gerechtigkeit nehmen die Verantwortlichen ihre Verantwortung nicht wahr. Dafür müsste man sie an den Ohren ziehen!

Wenn ein Mitarbeiter eine Frikadelle stiehlt, wird er entlassen. Wenn ein Manager zu hohe Gehaltserhöhungen gibt, lösen sich seine größten Probleme – so? Darf das sein? Dürfen Manager mit dem Betriebsvermögen um sich werfen? Müssen nicht die, die die Verantwortung haben, ethischer handeln als die ihnen Anvertrauten?

Nein. Niemand straft sie, man ersinnt Regeln, die ihre Unverantwortlichkeit eindämmen. Man erfand dazu das Naturgesetz der kleinen Zahl: „Überhaupt alles ist nach der Glockenkurve verteilt.“ Die Verteilung der Glockenkurve heißt Normalverteilung. Das passt wunderschön! Wir sagen zufrieden: „Alles muss immer normalverteilt sein. Alles ist normal. Unnormales ist verboten.“

Wenn nun ein Nobelpreisträger zehn Superdoktoranden hat, muss eine Normalverteilung herauskommen. Muss jetzt einer durchfallen? Darf nur einer von ihnen mit „summa cum laude“ abschließen? An manchen Unis ist das heute tatsächlich so, es reißt immer mehr ein: Die Professoren geben so lange „summa cum laude“, bis sie die Jahresquote erfüllt haben, danach geben sie nur noch „magna cum laude“, die letzten Abgebenden müssen fürchten, echt durchzufallen. So ist das Problem der Verantwortlichen wieder gut gelöst. Sie geben so lange gute Noten, wie es geht. Danach bedauern sie, nicht mehr tun zu können. „Die Summaquote ist schon erfüllt. Es tut mir leid. Dieses System ist nicht gerecht.“ Nun bemühen sich die Doktoranden, die Arbeit zu Weihnachten abzugeben und die Prüfung im Januar zu machen. Bald müssen sie wohl das Prüfungsamt für den ersten Prüfungstermin im Jahr bestechen?

Sehr gute Manager mit dann auch oft sehr guten Mitarbeitern müssen, um dem Gesetz der kleinen Zahl Genüge zu tun, einige Mitarbeiter in der Abteilung als Low Performer abstempeln. Die brausen auf und argumentieren, dass das Gesetz der kleinen Zahl Unsinn sei. „Ja, es ist Unsinn, aber es gilt!“ – „Warum!“, schreit der Mitarbeiter. Und die Antwort ist immer: „Weil aus Erfahrung angenommen werden muss, dass die Verantwortlichen ihre Verantwortung nicht nachkommen. Viele schlechte Vorgesetzte haben oft schlechte Mitarbeiterleistungen, die müssten eigentlich alle schlecht bewertet werden. Dann aber würde man merken, dass diese Vorgesetzten schlecht sind. Daher geben Unverantwortliche und schlechte Chefs möglichst gute Noten. Man zieht aber diese vielen Unverantwortlichen NIEMALS zur Rechenschaft, weil sich die Verantwortlichen nichts gegenseitig antun. Sie führen dann Regeln gegen Missbrauch ein, so dass die unverantwortlichen Verantwortlichen nicht so ganz unverantwortlich sein können.“

So wie der Chef, Lehrer oder Professor keine unangenehmen Gespräche mit schlechten Mitarbeitern oder Schülern führen will, so will sich das System nicht mit den schlechten Managern oder Lehrern anlegen. „Wenn wir mit Führungskräften schimpfen, demotiviert es sie, dann ist der Schaden noch größer. Nur Mitarbeiter arbeiten unter Schimpfen besser, Vorgesetzte leider schlechter.“

Das System setzt also ohne Ansehen der Unverantwortlichkeit Regeln, die einigermaßen funktionieren und so wie Gerechtigkeit aussehen. So kommt es zum Gesetz der kleinen Zahl. Die Glockenkurve kann als gerecht verkauft werden.

Nur ganz oben, da, wo kein System ist, kann man sich wieder bedienen. Nach Herzenslust. Da herrscht etwas anderes – das Gesetz der sehr kleinen Zahl.

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17 Antworten

  1. „Nur Mitarbeiter arbeiten unter Schimpfen besser“: Das glaube ich nicht. Aber es kann schon so sein, daß man als Maßnahme flächendeckend Mitarbeiter bestraft, in der Annahme, daß das Leistungssteigerung auf breiter Front generiert. Das ist dann aber eher ein „Herdenprinzip“.

  2. Beides so schon erlebt, sowohl in der Uni als auch im Job. In letzterem allerdings andersherum. Beim Mitarbeitergespräch hieß es:
    „Du hast zwar deine Ziele übererfüllt, aber ich kann dir nicht 100% der Leistungszulage geben. Viele Kollegen sind schon bei über 100% und ich muss mich an den Durchschnitt halten!“

  3. Schön … Sarkasmus pur. Da fragt man sich doch immer wieder gerne, warum sind Managergehälter höher, wenn sie im Endeffekt bei vielen Sachen genauso dumm oder gar noch dümmer agieren als ihre Mitarbeiter. Eigentlich müsste man sagen: Manager ist ein Job wie jeder andere: man muss halt gute Leistungen bringen, dann bekommt man gutes Gehalt, schlechte Leistung -> wenig Gehalt. Das eingesparte Geld könnte man dann den gut arbeitenden Erzieherinnen, Lehrern, Altenpflegern, etc. geben, die anderen bekommen ja jetzt auch schon wenig Gehalt …

  4. So ganz spontan scheint es im Profifußball anders zu sein. Da entlässt man den Trainer bei schlechten Mannschaftsleistungen und, oft, wie durch ein Wunder spielt die Mannschaft mit neuem Trainer auf einmal super (aktuell bei Werder Bremen zu sehen).

    Überträgt man diese Systematik nun in den allgemeinen Geschäftsbetrieb, …

    Nun ja, das Beispiel hinkt eben zu sehr.

  5. Ach nee, Gauss wird an seine Glocke gehängt. Heul doch! … Was für ein böses böses Luxusproblem! Warum erhöhen sich dann alle Manager das Gehalt weit überdurchschnittlich? Weil’s geht!! Ach ja, sie ziehen’s unten wieder ab – Gaussglocke ganz schief, aber gerettet.

  6. Irgendwoher kenne ich das System. Ich durfte es ertragen und anwenden. Ich kann echt behaupten es genau zu kennen. Die Folgen für die Mitarbeiter ist Frust aus ungerechter Behandlungen, für den gerechten Mangager ein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Mitarbeitern. Insgesamt leidet das Betriebsklima.
    Aber am meisten leiden diejenigen, die versuchen über Mehrleistung zu einer besseren Beurteilung zu kommen aber auf Grund der Normalverteilung keine Chance haben. Stressfrei leben erstmal die „Faulen“. Für diese hat man dann aber das Performance Management erfunden. Wo man dann nach dem Schneewitchenchen Verfahren vorgeht.
    Die Guten ins Töpfchen die schlechten ins Kröpfchen.
    Sortiert man auf diese Weise alle „Faulen“ aus hat man am Ende die Besten übrig. Um dann der Normalverteilung zu genügen bekommen beide eine mittlere Beurteilung oder der eine die beste und der andere die schlechteste Beurteilung. Damit ist die Ungerechtigkeit transparent.

  7. Laut Spieltheorie wird das für alle Beteiligten bestmögliche Ergebnis erreicht, wenn das Mittelmaß bevorzugt wird. Vom Outcome her gedacht, ein halbwegs funktionstüchtiger Betrieb mit mittelmäßigen Beschäftigten, die aber zufrieden sind, bringt mehr ein, weil er weniger Kosten verursacht (geringerer Krankenstand, besseres Betriebsklima, sanfte Betriebsräte usw.)

  8. Natürlich hat das System. Nur welches Ziel dieses System genau hat, erkenne ich noch nicht und auch nicht wer oder was genau dahintersteht. Es ist doch ein Irrsinn wenn ich als Arbeitgeber von Arbeitsgerichten gezwungen werde, Mitarbeitern ein Zeugnis auszustellen, denen sie absolut nicht entsprechen. Alles muss wenigstens im oberen Mittelmaß bleiben.
    Wie eine Freundin sagt die einige Jahre für einem Meinungsforschungsinstitut verschiedenste Menschen zu den unterschiedlichsten Themen befragt hat: Diesen Job kann ich unmöglich länger aushalten, mehr als 90% der Befragten sind einfach nur b…. und dabei ist es egal ob sie einen Doktor vor dem Namen haben oder nicht.
    Deckt sich mit meinen Beobachtungen.

  9. Und dann wird gerne vergessen, dass das Gesetz der großen Zahl nur bei unabhängigen Ereignissen, wie beim Würfeln, gilt. Die Leistungen von Menschen in einem Team sehe ich eher als voneinander abhängig an. Also weg mit diesem Gesetz, da es nur auf die tote Welt anwendbar ist.

    Denkerische Grüße,
    Conny Dethloff

  10. Wenn zwei oder mehr Menschen sich zusammentun, bildet sich ein System. Automatisch. Anfangs bestimmen noch die Beteiligten Inhalt und Ausrichtung des Systems, sowie seine Regeln und deren Einhaltung.
    Was die Menschen aber nicht wissen: Das System wächst heran und bildet eine Art eigene „Persönlichkeit“. Es entwickelt sich quasi ein ganz eigenständiger, aber unsichtbarer Beteiligter, der immer größer, stärker, mächtiger und unabhängiger wird. Und dieser unsichtbare Beteiligte hat ganz eigene Interessen. Sein wichtigstes und größtes Interesse ist sein Selbsterhalt!
    So gestaltet „das System“ als graue Eminenz im Hingergrund nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen Beteiligten. Da aber keiner um die Existenz dieses unsichtbar wirkenden „Dritten“ weiß, denken und fühlen alle Beteiligten, sie würden nach wie vor wesentlichen Einfluss ausüben und dass die Erhaltung dieses von ihnen geschaffenen und unterhaltenen und eigentlich auch für gut befundenen Systems „alternativlos“ sei.
    Daraus entsteht dann die prekäre Situation, dass die Menschen dem System dienen, was wir ja allenthalben in der Welt, vor unserer eigenen Haustür oder in unserem eigenen System Familie sehr intensiv beobachten können und nicht umgekehrt, dass das System dem Menschen dient, so wie es ja ursprünglich mal gedacht war.
    Zum Infragestellen und Ändern eines Systems braucht es Dissidenten (sich auseinandersetzende, sich absetzende, widerstrebende), System-Kritiker im besten Sinne, damit wieder deutlich wird, wer eigentlich für wen da ist.
    Sie, Herr Dueck, sind für mich ein solcher Dissident.

  11. Habe mich immer gewundert Jahr für Jahr immer die gleiche (schlechte) Note bei den Klassenarbeiten in Deutsch zu bekommen. Bis mir klar wurde, warum ! Ich war „Referenz“ Schüler, d.h. die Arbeiten ausgewählter Schüler wurden festen Noten zugeordnet und die übrigen Arbeiten dann einsortiert ! Ergibt das Ergebnis gerechte Noten und eine Normalverteilung ?

  12. Vielen Dank für diesen Artikel.

    Den Fokus der Schulleitung und auch der Eltern auf die Normalverteilung kann ich genau so bestätigen. Die einfachen Lehrer sind hier aber Opfer des Systems: Gibt man in schwachen Kursen Noten, die die Schüler verdienen, hat man in dreierlei Hinsicht Ärger. 1. Man muss eine Klausur wiederholen; 2. Man hat Theater mit den Eltern; 3. Man hat Theater mit der Schulleitung. Folglich gibt man einfach gute Noten.

    Das ist erbärmlich und der Grund des Übels sind letztendlich die 5% Eltern leistungsschwacher Schüler, die am lautesten schreien. Diese werden von der SL erhört. Eltern leistungsstarker Schüler oder Eltern die zufrieden sind, schreien ja nicht: „Toll!“, sondern sind einfach still.

    In der Schule hat man also bereits seit mehreren Jahren das Problem der Minderheitenregierung durch Eltern und die Rückgratlosigkeit inkompetenter Schulleitungen, die es allen Recht machen wollen (nur eben dem Kollegium nicht -> Außenwirkung).

    Ich bin Lehrerin an einem Gymnasium u.A. für das Fach Mathematik.

  13. Vielleicht sollte man einfach Gauß-Verteilung sagen. Dann wäre der Aufhänger „Normal“ weg. Worte zu ändern ist ein funktionierendes Werkzeug des Mind-Engineerings. Kann man übrigens auch im Internet sehen: Das gute, alte „Share“ = „Gemeinsam nutzen“ als Aufforderung, seine Meinung anderen mitzuteilen, wird seit der Staatsschuldenkrise plötzlich übersetzt mit „Teilen“ = „Etwas abgeben“ übersetzt. Honi soit qi mal y pense.

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