DD246: Dispathie – Unterschiedliche Wahrnehmungsweisen (August 2015)

Twitter
Facebook
LinkedIn
XING

DD246: Dispathie – Unterschiedliche Wahrnehmungsweisen (August 2015)

Wir sind von Dispathen umgeben und wahrscheinlich in vieler Hinsicht selbst einer. Gibt es das Wort Dispathie schon? Im Duden nicht. Manche sagen, es bedeute „Unterschiedlichkeit der Empfindungsweise“. Ich ändere es eigenmächtig in: „Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungsweise oder Wahrnehmungsebene“. Die Neurolinguistische Programmierung predigt es in einem Minikosmos schon lange: Der Mensch nimmt die Welt vor allem über seine Sinne wahr – so stellt NLP fest – über das Auge, die Zunge, das Ohr, die Haut oder die Nase – jeder hat dabei seine Prioritäten, und die prägen sein ganzes Wesen.

Na, da macht es sich die NLP zu einfach. Es gibt viel mehr Wahrnehmungsebenen. Gefühl versus Vernunft zum Bespiel. Gerechtigkeit versus Barmherzigkeit. Da fällt mir gerade Uli Hoeneß ein. Der sitzt jetzt schon über ein Jahr und muss zu seinem verlorenen Vermögen noch die Steuern nachzahlen. Die Gerechtigkeitsebene sagt: Der Herr Hoeneß ist vor dem Gesetz kriminell und soll büßen wie jeder. Er hat so viel an Ehre verloren, dass eine Wiedereinsetzung in hohe Ämter bedenklich erscheint. Die Barmherzigkeit sagt: Unser Uli ist genug bestraft. Wir lieben ihn als Mensch noch immer. Schwamm über die Spekulationen – jetzt, wo seine Frau Bescheid weiß, ist eine Wiederholung ausgeschlossen. Das Herz der bayrischen Bayern soll wieder auf der Bank sitzen. Bank, äh, mit den Spielern natürlich. Spieler, äh, mit den Fußballern natürlich.

Die Kontroverse um Hoeneß ist eine der Wahrnehmungsebenen „Gerechtigkeit“ versus „Barmherzigkeit“, vielleicht zwischen Kaiser und Gott. Damit ist sie als Kontroverse völlig sinnlos. Es gibt in jeder Frage diese beiden Seiten der Medaille, das ist so! Aber in jedem Einzelbeispiel exerzieren die Leute, die jeweils nur EINE Wahrnehmung kennen, das Anschmutzen der anderen Seite.

Noch ein Beispiel: Ex-Bundespräsident Wulff hat vor dem Gesetz („Gerechtigkeit“) eine weiße Weste. Auf der Gefühlsebene hat er uns enttäuscht. Er musste gehen, weil er die andere Seite selbst nicht zu kennen scheint, die Ebene unseres Herzens.

Viele von uns nehmen alles nur durch eine Spezialbrille mit Filtern wahr. „Berlusconi? Verjagt ihn!“ – „Berlusconi? Starker Macho, ein echtes Vorbild!“ Die verschiedenen Teilblinden mit ihren Brillenfiltern diskutieren also an jedem beliebigen Einzelfall immer dasselbe: Deine Brille – meine Brille. Ich sehe, was du nicht siehst. Du bist DESHALB nicht mein Freund.

Zwischen „Sicherheit“ und „Innovation“ ist ein tiefer Wahrnehmungsgraben, also zwischen den mehr zwanghaften und hysterischen Menschen. Ein weiterer ist zwischen „Ich“ und „Wir“, zwischen „Staatsmacht“ und „Laissez faire“, zwischen „Zentralisierung“ und „Freiheit vor Ort“, zwischen „Hierarchie-Management“ und „Netzwerk-Agilität“…

Diese Gräben zwischen den polaren Gegensätzen spalten die Menschen jedes Mal. Dispathie in jedem Einzelfall. Könnten wir vor der gegenseitigen Anschreierei bitte erst einmal die Gräben explizit benennen, um die es geht? Und dann sehen, dass es eigentlich wieder nur um die Gräben geht, nicht um die Einzelfallbetrachtung an sich? Dann wäre klarer, dass wir viel weniger aufgebrachte Dispute brauchen, sondern Brücken. Viele Brücken.

Übungsaufgabe Griechenland/Elendsflüchtlinge: Wie sieht jeweils die Lösung aus der Sicht von „Ich“, „Wir“, „Gerechtigkeit“, „Barmherzigkeit“, „Gemeinsinn“, „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“ etc. aus? Sind die Menschen auf der anderen Seite des Grabens nur schwarz schlecht? Können wir uns keine Brücke vorstellen?

Gehen Sie in sich: Ist es überhaupt theoretisch denkbar, dass alle Menschen jemals gleichzeitig auf der einen Seite des Grabens wären? Das ginge natürlich theoretisch nur dann, wenn alle auf Ihrer Seite stünden… Dafür kämpfen Sie offenbar. Wer ist dann, bitte, für Ihren Frust verantwortlich?

Twitter
Facebook
LinkedIn
XING

11 Antworten

  1. Wenn man beginnt zu sagen was man möchte und nicht was der andere Falsch macht, beginnt die Kommunikation. (ich erinnere mich nicht mehr wer das gesagt hat)

    Als langjähriger Internetnutzer frage ich mich ob das Medium dazu beiträgt nur noch in rechts/links, schwarz/weiß, ich/wir zu denken.

    In meiner Welt sollte es mehr Brücken geben, die Gräben oder Unterschiede braucht es um voran zu kommen, sonst ist alles alternativlos und ich bleibe stets auf der einen Seite des Grabens.

    Danke für den Text.

  2. Strukturell ja, calceola, weil es neue Verbindungen erlaubt. Das Aufzeigen und Abarbeiten an den Gegensätzen, ist dann die spannende, notwendige und produktive Kulturarbeit. Brücken sind überbewertet. Bleibt noch das Thema der Extreme, sowie der Sinnverlust als Quelle der Kraftlosigkeit.

  3. Keiner kann alle Gesichtspunkte eines Falls in sich tragen. Aber wer schon mal einen Kommentar zu einem Post ausgearbeitet hat, ihn dann verwirft (aus welchem Grund auch immer) und neu ansetzt, der wird eine vermutlich davon abweichende Stellungsnahme von sich hören. Weil er im Verlauf des Denkens über den Sachverhalt, des Ausformulierens auch, eine Reise macht.

  4. Da die Menschen, die ich kenne, alle in einem Körper und mit unterschiedlicher Biografie hier auf Erden wandeln, gibt es gar keine andere Möglichkeit, als daß verschiedene Perspektiven und Wahrnehmungsebenen aufeinandertreffen. Das scheint mir das „Salz in der Suppe“, der „Plot“ für das Erleben in dieser Welt zu sein.

    Allein das Körperliche, sowohl der Raum, den ich einnehme als auch die Haltung im Raum, die ich annehme, bedingen (m)eine einzigartige Perspektive. Sich „in einen anderen hineinzuversetzen“ geht ja schon allein körperlich garnicht …

    Daß so viele Menschen die Welt durch eine (ihre) Brille sehen (wollen), davon profitiert Fielmann und liefert den preisgünstigen Rahmen gleich noch mit! 😉
    Ist es nicht auffällig, wieviele Menschen auch in jungen Jahren mittlerweile mit Brille herumlaufen?

    Klar, ich kann mein Bewusstsein erweitern, vielleicht erreiche ich irgendwann die Ebene, um in jedem Augenblick multiperspektivisch bewußt wahrzunehmen. Ob ich mich dann allerdings weiter dem Lärm der Internet-Foren und Quasselshows im Fernsehen aussetzen will, ist eine andere Sache.

    Die noch umfassendere Ebene des non-dualen Bewusstseins bleibt wohl wenigen Begnadeten vorbehalten.

  5. Ich musste bei diesem Text, bei der Brille des Gegenübers und weitergehend der Art der Kommunikation an Marshall Rosenberg und die „Gewaltfreie Kommunikation“ denken. Empathie und Reflexion… ja, davon müsste es deutlich mehr auf dieser Erde geben. Schade, dass zu viele Familien und Schulen daran scheitern bzw. es im Schulalltag vernachlässigen. Strukturelle Gewalt…

  6. Wenn Menschen beide Seiten in sich haben, dann sind sie erleuchtet oder heilig (je nach Religion), mindestens aber weise.
    Ich glaube nicht, dass das notwendig ist, um Gräben zu überwinden. Es würde schon reichen, wenn wir bei aller eigener Meinung und engagierter Diskussion in Erwägung ziehen, dass es auch eine andere Seite der Medaille geben könnte, eine zweite oder dritte Sicht auf das Geschehen.
    Das kann man üben!
    Und wer das tut, der hütet sich vor Absolutheitsanspruch, vor Gräben ausheben und Grenzen aufschütten, denn er weiß, der andere hat auch recht. Es gibt eben keine Objektivität.
    Um ie andere Sicht zu erfassen und die Folgen meiner Ansichten beim Gegenüber zu erkennen, ist aber Empathie notwendig. Das kann man üben.
    Nicht nur in der Schule oder der Familie, auch und gerade im Erwachsenenalter. Jeder der „Schutzbefohlene“ hat (Kinder, Patenkinder, Studenten, Schüler, Mitarbeiter, Teammitglieder, etc.) tut gut daran, Empathie zu üben, damit man diese Fertigkeit weiter geben kann.

    1. Absolutheitsanspruch und Religion passt zusammen! nicht umgekehrt.
      Schutzbefohlene werden gerade auch in diesen religiösen Institutionen nicht geschützt.
      Zählen Sie doch mal einige Heilige auf, in denen Sie beide Seiten der Medaille gefunden haben!
      Also da würde ich mir die Medaillen mal genauer betrachten wollen.

  7. Ich habe vor Jahren im Hause IBM an einem Kommunikationstraining teilgenommen. Eine der „praxisnahen“ Übungen war, einem Mitarbeiter positiv zu vermitteln, dass er das Unternehmen verlassen soll, weil Personal eingespart werden muss. Ziel des Gesprächs sollte sein, dass der nicht mehr bezahlbare Kollege das Gespräch motiviert und mit der festen Überzeugung verlässt, zu neuen Ufern aufbrechen zu **wollen**.

    Von den 10 Teilnehmern an der Übung haben sich 9 abgerackert und einige sogar die jeweilige „Versuchsperson“ (fast) überzeugt.

    Einer hat es abgelehnt, an der Übung teilzunehmen. Er wurde dann beim üblichen Abendvergnügen von den anderen ein wenig spöttisch behandelt.

    Moral: Empathie setzt gemeinsame Werte voraus. So was wie die 10 Gebote. Sonst ist sie nur eine Verkleidung.

    Man kann Empathie keineswegs üben oder lernen.

  8. Pingback: Dueck | Pearltrees
  9. Ich denke schon, dass man Empathie auch trainieren kann. Je nach Veranlagung wird man damit unterschiedlich weit kommen, aber mit der Aussage „ich hab nur so viel, ist halt so“ macht man es sich da etwas zu einfach.

    Ich halte es vor allem für eine gute Übung, die Wahrnehmung von der Wertung zu trennen. Wenn ich es schaffe, bei meinem Gegenüber etwas wahrzunehmen, ohne diesem gleich automatisch ein Etikett „gut“ oder „schlecht“ anzukleben, dann kann ich viel mehr Menschen offen gegenübertreten und auch Menschen wertschätzen, die andere Wertevorstellungen haben als ich selbst. Meine eigenen Vorstellungen muss ich deswegen ja nicht aufgeben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert