DD307: Strukturen machen Leute – aber welche? (Dezember 2017)

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Menschen brauchen Halt, sagt man. Sie brauchen ihre eigene Ordnung, ihre liebgewonnenen Rituale, vielleicht auch eine gemütliche Filterblase. Wir alle lieben verlässliche Orientierungen, die uns als Rahmen für ein sinnvolles Leben dienen können.

Moralische Gesetze, Ethik, geteilte Prinzipien und religiöse Vorstellungen prägen uns so sehr, dass sie uns im Idealfall nicht nur zu einzelnen guten Menschen formen, sondern auch in eine gemeinsame Gesellschaft integrieren. „Ordnung ist das halbe Leben“, sagen so viele – und ohne Ordnung wäre das Leben dann auch nur halb so schön.

Wenn Menschen Seelenprobleme haben, fallen sie oft aus ihren gewohnten Strukturen heraus und müssen zuerst wieder einfühlsam strukturiert/eingeordnet werden, auch, damit sie „zu den Anderen“ zurückkehren können, von denen sie sich äußerlich oder innerlich zurückgezogen oder distanziert haben.

Leute brauchen Strukturen, von denen sie selbst geformt werden wollen. Daher ersinnen weise Menschen für sie unentwegt kluge Strukturen, Organisationen und Staatsgebilde oder sie empfangen heilige Ordnungen aus göttlichen Sphären.

Leider funktionieren alle diese Ordnungen immer nur mittelmäßig. Könige beuten aus. Kirchen verbrennen Zweifler. Gott scheint Unrecht und Unglück zuzulassen. Wir fragen: Warum gibt es Elend unter angeblich weisen Strukturen? Sind die Strukturen eben nicht weise? Oder zu schwach? Die Theodizee-Frage: Ist Gott nur gütig – aber schwach, oder ist er doch allmächtig, aber irgendwie rücksichtslos? Die Hüter der Strukturen wollen uns beruhigen. Sie versichern: „Die herrschende Ordnung ist an sich bestmöglich, wenn auch verbesserungsbedürftig. Daran arbeiten wir unentwegt.“ Das sagen die Eliten immer, aber nichts passiert. Alles bleibt durchschnittlich – tja, und wir geben uns damit zufrieden, dass die Herrscher zumindest gelegentlich zugeben, dass nicht alles Gold ist. Daher zahlen wir ihnen dann auch immer mehr Steuern – muss ja sein, um sich dem Ideal zu nähern, oder?

Weihnachten steht vor der Tür. Die Hoffnung an sich wird im Gottesdienst beschworen werden. Wir glauben aber immer weniger an irgendeine Verheißung, so wenig, dass sich die Kirchen leeren. Der Glaube sinkt. Die Ethik ist nicht mehr von selbst da – man versucht es zum Beispiel mit zusätzlichen obligatorischen Uni-Vorlesungen in Wirtschaftsethik, ohne deren Credit Points man nicht mehr Manager werden soll. Die lassen dann die Mitarbeiter jährlich nach Belehrung unterschreiben, dass sie ethisch sein werden. Die Gemeinschaft wird nicht mehr durch menschliche Beziehungen getragen, die auf Vertrauen bauen, sondern mehr und mehr durch strikt optimierte Geschäftsprozesse, die funktionieren sollen – mit 100 Prozent Zuverlässigkeit! Leider funktionieren die neuen Computerstrukturen und Call-Centers, all die Excel-Manager und Aushilfslehrer wieder nicht zu hundert Prozent, sondern wie gewohnt nur mittelmäßig. Das gefühlt Unangenehme: Die neuen Strukturen sind anonym.

An anonyme Strukturen können wir nicht appellieren. Kein „Erbarme Dich unser“. Fast täglich werden wir Opfer von Prozessabläufen, die nicht funktionieren – und es ist nie jemand da, der die Verantwortung hat oder gar wahrnimmt. Verfällt die Schule? Kein Geld. Zerlöchern die Straßen? Achselzucken. Fällt der Zug aus? Pech. Dieselbetrug, Finanzkrise? Jeder nimmt halt, was er halblegal kann. Warum werden Tausende von Top-Mitarbeiter entlassen? Das erfordert die neue Strategie, sagen sie. Millionen arbeiten unter Totalstress über Weihnachten/Neujahr, der Handel zum Beispiel und überall die Jahresabschlussstäbe – die Politiker dagegen gehen ohne Regierungsbildung auseinander. Wir fragen uns, wann sie endlich einmal sondieren, ob sie nun Sondierungsgespräche aufnehmen oder nicht. Wer von denen ist überhaupt entschlossen, egal wozu?

Wir rufen nicht mehr verzweifelt „Gott, wo bist Du?“ in den weißgrauen Himmel. Wir fühlen, dass uns die zerfasernden Strukturen, die nichts mehr integrieren, zu anderen Menschen machen. Zu unsympathischeren, so steht zu befürchten. Die heutigen Strukturen sind entrückt und machen uns deshalb so ohnmächtig. Sie sind rücksichtslos – sowieso. Sie vereinzeln uns und vergällen Solidarisches.

Globalisierung, Ökonomisierung und technisch gesehen die Digitalisierung verändern die uns prägenden Strukturen, wie sie wollen. Es fehlt unserer Gemeinschaft an „Weisheit von Strukturphilosophen“, an einer neuen „Shared Vision“, klar! Aber es scheint an einer Nachfrage nach ihr zu mangeln!

Einst hofften wir auf Gott oder auf die Annäherung an Ideale – mit mehr oder weniger Zuversicht oder revolutionärer Wut. Heute fügen wir uns zu sehr in unser Schicksal und haben nicht mehr die ganz großen ausgreifend-gemeinsamen Ideale, sondern allenfalls ein paar kleine private: Fahrradfahren, Müll trennen und Böllerverzicht.

Uns geht es doch im Prinzip noch gut, sagen wir uns. Rein ökonomisch könnte das stimmen. Das Leben ist nicht so schlecht. Dieses Jahr gibt es zu Weihnachten Austern beim ALDI.

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11 Antworten

  1. Wenn alles schön seine Ordnung hat, braucht man selbst nicht mehr so viel erklären, sich erklären und hat Zeit für das Wesentliche, konsumieren, photographieren, teilen.

    Maden im Speck kommen auch nicht auf die Idee den Speck Speck sein zu lassen um sich auf den Weg zum ilet zu machen. Reicht doch, ist doch alles gut so.

    Schließe mich Herrn Stelter an, schöne Weihnachtstage.

  2. uups. „… . Zu unsympathischeren, so steht zu befürchten. Die heutigen Strukturen sind entrückt und machen uns deshalb so ohnmächtig. Sie sind rücksichtslos – sowieso. Sie vereinzeln uns und vergällen Solidarisches.“

    Ich jogge heute in der Mittagspause, also jetzt…

    …bin schon zurück. Der Lauf tat gut, so konnte ich die Traurigkeit vertreiben, die obige Aussage bei mir auslöste.

    Menschen-gemachte Systeme/Strukturen sind tatsächlich in ihrer Macht, ihrer Reichweite oder Wirkungsgrad zu beschränken, sonst fressen sie die, die nicht Teil davon sind, irgendwie, quasi die Minderheit, die erst Pech hat und dann keine Glück. Das „fressen“ tun natürliche Systeme/Strukturen auch gelegentlich (z.B. passend zu den Jahreszeiten oder anderen kosmologischen Zyklen), aber die sind eben nicht Menschen-gemacht. So gesehen ist der Mensch wiedermal nur Teil der Natur und nicht umgekehrt. Trotzdem darf das doch eigentlich keine ständige Ausrede oder Rechtfertigung für Missetaten sein…

    Kümmern wir uns doch um unsere Nächsten: Kinder, Hilfsbedürftigen, Kollegen, Nachbarn, Freunde, Familie und Partner (Reihenfolge fast egal, um alle ein bisschen!) . Bindung und gemeinsame Zeit geben ein so schönes Gefühl. Schenken wir doch das, nicht nur an Weihnachten, dann kommst es auch unter-jährig zurück zu uns und ist nicht nur Alibi und doch eher nur Ablenkungsmanöver oder Mimesis nur zu Weihnachten…

    Dann denke ich an das Neue Jahr und die „Strukturen“: Aufbegehren als Don Quijote (treten nach oben) oder buckeln und treten (nach unten)? Konstruktive Kritik! und Echtheit!, Querdenker! bleibt uns bitte erhalten. Ich pflege euch gerne. In mir selbst oder bei Euch.

    Bei Aldi gehe ich nur gelegentlich einkaufen – am liebsten aber beim Bauern umme Ecke, ciao „Struktur“.

  3. Menschen brauchen Strukturen, Häschen baden im der Ursuppe. Ja, ja das Chaos aus dem das Universum in seiner ewig anmutenden Schötheit sich formte, welches uns alle noch heute verbindet, umgibt uns nicht nur beim Aldi sondern in jedem Shop vor Weihnachten und auch hernach. Egal ob groß ob klein, dann tauschen wir nicht ein – sondern um. Bum. Das war jetzt abrupt wie die Enttäuschung oder der Umtausch selbst. Mit Liebe ausgewählt und doch verschmäht. Würdigt der Beschenkte doch glatt was ihm oder ihr selbst anmutet. Egal.

    Und das ewige Lämpchen leuchte der Konsumgesellschaft.

    Ein besinnliches Weihnachtsfest und Gesundheit auch ihnen. Und btw… Play it loud Mother Love Bone… auch nächstes Jahr.

  4. Hahaha. Super. Nett und interessant geschrieben, schöne, wahre Haltung. Der Unterschied zwischen Herr und Knecht darf nur nicht zu groß sein, so wie der Unterschied beim „Liege- und Schlafverhalten“ zweier Menschen im Doppelbett – im übertragenen Sinne. Dann ächzt und knarzt auch nicht das Solidarprinzip…

    Der Mensch (die Menschheit) durchlebt anscheinend verschiedenste Auf und Ab in seiner Geschichte, so wie sich die Jahreszeiten im Kreis wiederholen… nur „ein wenig“ komplexer eben, mit vielen unterschiedlichen, teils parallel oder zeitlich versetzt laufenden Auf und Ab.

    „Frohes Fest“ ohne subtilen Verweis auf den Song der F4 😉

    Unsere Islam-gewöhnten Mitbürgern: Ein schönes Wochenende. Der nächste Ramadan kommt schon bald.

  5. Nachdenklich. Alain Badiou ist einer, der auch darüber nachdachte. Auch er kommt in seiner Phänomenologie zu drei Persönlichkeitstypen, von denen aber nur einer den Mühlen entkommt: der ereignistreue. Und auch er sucht, wie Menschen zu diesem Ziel kommen könnten, mit der eigenen Entwicklung mutig und vertrauensvoll zu gehen, anstatt sich entweder destruktiver Todessehnsucht oder dem versteinernden Mainstream auszuliefern. Er sucht nach der Methode bei – Paulus, ausgerechnet dem, der die Methoden der Versteinerung erfunden hat. Zumindest in der Religion, die das Abendland bis heute prägt. Der Verlauf des Christentums ist in unserer Gesellschaft prägend bis heute und umso fataler, als es nur noch über Wirkungen und nicht mehr über den Ursprung selbst fassbar ist.

    1. Wohl und Wehe des Tiefsinns, der im Extremen auch nicht mehr gemeinschaftlich ist, obwohl er es sich evtl. genau das selbst auf die Fahnen schreibt, egal was er sich auf die Fahnen schreibt, weil in der Tiefe jeder seinen eigenen Sinn nur findet. Deswegen ist die Gemeinschaft, wo und wie immer sie gelebt wird ein so schätzbares und empfindliches, temporäres Gut und gelegentlich so belebend wie abschreckend, wo man den eigenen Teiefsinn auch ein Stückweit loslassen können sollte. Ich akzeptiere und ertrage dann den Anderen oder das Andere, selbst wenn es mich (indirekt, fast unmerklich) verletzt (bzw. ich mich indirekt verletzt fühle). Man nennt das echte Toleranz. So verstehe ich z.B. die Idee des Christentums oder die humanistische Psychologie. Und es tut gut, denn es stoppt Negativspiralen, die z.B. nationalistische Strömungen, die weiltweit derzeit tendenziell häufiger noch als vor 10 Jahren ausgelösen. Ein schädlicher Reflex für alle, das einigeln/abgrenzen – privat, Gruppe, Nation. Es scheint immer so irgendwo in dieser schädlichen Form weiterzugehen, deswegen hoffe ich auf die Familienfeier, aber auch da finde ich den fehlbaren Menschen, so wie mich selbst. Ich versuche „offene Arme“, Vergebung, 5e grade sein lassen.

      Gemeinschaft hält dann, wenn Destruktives vermieden wird und doch gibt es auch da unterschiedliche Wahrnehmungen darüber was Destruktiv denn im Einzelfall wäre. Am schönsten ist sicherlich das Konstruktive, welches Vertrauen schafft!!!

      Trump (z.B) ist das lebende Beispiel gegen Toleranz und für Misstrauen. Darum fällt es mir so sehr schwer seine Art der Führung zu ertragen. Nun gut, er (und alle Abgrenzungsbemühung weltweit zwischen Familien und Gruppen und Nationan) ist relativ weit weg (zumindest sachlich und räumlich, wenn auch nicht zeitlich), dann kann ich das noch ertragen. Und doch bin ich Teil des Ganzen.

      Und am Ende – muss ich gestehen – grenze ich mich mit der Haltung gegen Abgrenzung auch wieder ab.

      Schluss jetzt. Jetzt ist bald Weihnachten und Familie und nur das für ein paar Tage – Kinder, Kochen, Kirche, Kaminfeuer, Lieder singen, Gedichte vortragen, ein paar gute Essen geniessen.

      Wie schön sind doch hoffnungsvoll glänzende (Kinder)augen.

      Viele liebe Grüße und nochmal eine (vor)frohe Zeit!

  6. mein spätes Weihnachtsgeschenk für Dück:

    ***Struktur im Phasenübergang ?***

    1. das Gewohnte

    Menschen sind Punkte, die sich mit ähnlichen Geschwindigkeiten
    selbst bewegen können.

    Einhörner sind wie Fixpunkte im 3-dimensionalen Raum,
    wunderschön von Fern anzusehen, aber meistens als Punkte
    schwierig anzutreffen.

    Geraden bilden sich aus direkter Kooperation zwischen Punkten, sie sind
    unendlich viel größer als Einhörner, aber unendlich viel kleiner
    als eine ständische Ebene.

    Die traditionsreichste unter den letzteren ist die des freien
    Zimmermanns. Das sagte Goethe, und Goethe bleibt. Nur das frei
    stimmt nicht mehr, wegen der Regierung.

    Denn die Regierung kann Flächen und Geraden schützen, das begrenzt aber
    Ihre Ausdehnung und limitiert auch Ihre Bewegungs Geschwindigkeit.

    Die Regierung kann außerdem Fixpunkten verbieten sich zu verbinden.

    Das Handeln der Regierungen ist aber zufällig und daher auf sehr
    langen Zeitskalen wahrscheinlich irrelevant.

    2. elementare Stossprozesse

    Wenn Punkte kollidieren, kann das an- oder unangenehm für sie sein. Es hängt
    v.a. von Ihrer relativen Geschwindigkeit ab.

    Bei der Kollision von verbundenen Punkt Strukturen zerstören niederdimensionale
    Strukturen die höherdimensionalen.

    Ein Sonderfall ist der Stoßprozess von geschützten Strukturen mit unverbundenen
    Fixpunkten – dieser hat keinen Effekt.

    3. kurz vor dem Phasenübergang

    Man beobachtet eine starke Zunahme der Geschwindigkeit mit der Einhörner entdeckt werden und
    zu Linien wachsen.

    Eine wachsende Punktemenge befindet sich hoffnungsfroh auf Einhornsuche, eine zweite sammelt
    sich zufrieden, leicht ängstlich auf Regierungs Strukturen. Die verbleibende Punktmenge schwindet,
    auch dadurch dass Punkte den Raum wechseln.

    4. Im Auge des Sturms
    Die Fläche und Anzahl der geschützten Strukturen ist genauso wie die Rate des Einhornwachstums auf ein Maximum
    angewachsen.

    Bei der Bundestagswahl erreichen extreme Liberalisten knapp vor den Kommunisten 51% der Stimmen.

    Einhörner wachsen zu seltsamen Fraktalen.

    5. Dannach
    Menschen sind Punkte, die sich mit ähnlichen Geschwindigkeiten selbst bewegen können.

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