DD241: Der Baum und die Erziehung (Juni 2015)

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DD241: Der Baum und die Erziehung   (Juni 2015)

„Oma, was ist eine Erziehung?“ – „Die Kinder sollen gerade wachsen und ihren guten Weg gehen, sie sollen nicht auf Abwege kommen. Ja, weißt du das nicht, mein Kleines?“

Die Kleine schaute fragend.

Die Oma fuhr fort: „Siehst du die Holzfäller vor unserer Hausnordseite, mein Kind? Da unten? Sie schaffen ein wenig Ordnung, damit es wieder schöner aussieht, wenn Gäste zu uns kommen und mit dem Wagen vorfahren. Ganz früher hatten wir dort etliche Bäume gepflanzt. Da war ich noch so klein wie du. Die Bäume wuchsen schnell. Die aber am Rande des Hauses bekamen mehr Sonne. Da wuchsen sie schneller als die in der Mitte. Besonders der Baum direkt vor dem Haus war immer recht klein, aber man sah ihm an, dass er beharrlich in den Himmel wachsen wollte. Er wuchs langsam und ganz gerade – Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt. Er schien zu wissen, dass auch er einst Sonne bekäme, wenn er nur bald das Haus überragte. Ganz gerade!“

„Er ist erzogen Oma, nicht wahr? Und warum sind die anderen Bäume so schrecklich schief?“

„Ach Kind, das wollte ich dir doch erklären! Hab etwas Geduld! Spring mit deinem Verstande nicht vor meiner Geschichte her! Die Bäume am Rande des Hauses wuchsen nun immerfort so, dass ihre Kronen an der Nordseite vorbei mehr von der Sonne abbekamen. So wuchsen sie schief und krumm der Sonne entgegen, sie suchten das Licht. Dabei soll doch ein Baum von Natur aus in den Himmel ragen. Das vergaßen sie ganz. Sie kamen vom Wege ab. Und du, mein Kind, sollst gerade wachsen, sollst alles auf Erden richtig machen, aber immer wissen, dass genau über dir der Himmel ist, der dir den Weg zeigt.“ – „Aha, und weil die anderen ganz schiefen Bäume das vergaßen, werden sie nun abgesägt?“ – „Ganz genau.“

Schritte nähern sich.

„Papa, fein, dass du heimkommst, Oma hat ganz leckeres Essen gekocht! Oh…bist du traurig, Papa?“ – „Ach Kind, in unserer Firma wachsen die Bäume nicht gerade in den Himmel. Wir müssen uns nach jedem Sonnenstrahl krümmen, wir ächzen und zagen, damit wir schneller wachsen als die anderen Unternehmen.“ – „Warum müsst ihr denn schneller wachsen?“ – „Das will doch jeder!“ – „Aber du willst doch eigentlich, dass bei euch die Bäume in den Himmel wachsen?“ – „Ach Kind, das ist nur so eine Redensart.“

Sie aßen.

„Oma, das mit den Bäumen konntest du damals noch nicht wissen, als du Papa erzogen hast?“

Die Oma legt den Löffel weg. „Als dein Vater klein war, konnte er noch den Himmel sehen. Dann aber überschattete vieles unser Leben so sehr. Überall war Nebel. Es wurde uns bange, wir schauten jedem seltenen Lichtstrahl nach.“

„Oma, es ist babyeinfach. Das Sonnenlicht ist mal hier, mal da, aber der Himmel ist immer oben.“ – „Kind, da sagst du was.“

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12 Antworten

  1. Sehr nachdenklich stimmender Text , insbesondere über das Zusammenwirken von Ereignissen, Stimmungen in einen Raum in dem es „eigentlich“ um
    Ein anderes Thema ging —und was die Worte dann für Kapriolengedanken „schlagen“ – fast so
    Wie wenn die Bäume „ausschlagen“

  2. Ist in der Tat ungewohnt!
    Was ist denn in der Firma vergleichbar das stabile Elememt „Oben, Himmel“, nachdem man sich recken könnte? Etwas sehr Zeitloses?!

    1. Himmel ist „Ri“, ich hab mal eine Kolumne Shuhari geschrieben – muss ich wohl noch einmal als DD machen? Es gibt auf der unteren Stufe „Shu“ Bezeichnungen wie „Rezepte/Regeln“, dann auf der zweiten Stufe „Ha“ „Variationen davon“, dann nur noch ein Bild („Ri“)… Dichtung beschreibt nicht, Lyrik bestimmt nicht, das Bild muss jeder selbst sehen?! Das Tao ist ganz „Ri“: „Geh den Weg.“ Und dann fragen viele: Wo ist der Weg genau? Wohin geht er? Wie weit? Wo sind Meilensteine? Was ist mit Weg eigentlich gemeint? Das darf man eigentlich nicht fragen, man muss daran arbeiten, es spüren zu können.

  3. Das Licht, das wir sehen ist nicht die Sonne, es ist nur ein Abbild, eine Erscheinung. Um die Sonne wieder zu sehen müssen wir werden wie die Kinder. Und wenn wir Glück haben, sehen wir auch wieder den Himmel.

  4. Sicher soll jeder aufrecht gehen und stehen – aber der gerade Weg? Der ist zum Glück eine Illusion, denn es sind doch gerade die krummen Wege die den Reiz und die Vielfalt eines Lebens ausmachen. Und das Ziel läuft einem ja auch immer wieder davon, damit der Ansporn zu mehr Weg und mehr Entwicklung erhalten bleibt.

  5. Lieber Gunter,

    Es ist wirklich gut und einprägsam.
    Geschichten, Fabeln und Märchen helfen Menschen besser, Zusammenhänge zu verstehen. Wir wurden damit groß; daher scheint es bei Erwachsenen mindestens genauso gut zu funktionieren wir bei Kindern 😉

    VG
    Alex

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