Flachsinn

Flachsinn – Ich habe Hirn , ich will hier raus

Wir werden überschwemmt: unsere Smartphones vibrieren bei jeder Headline, unsere Aufmerksamkeit wird besonders vom Schrillen, Extremen und Exotischen eingefangen. Ob in Wirtschaft, Politik, Bildung, überall Kurzwahrheiten im Sekundentakt. Doch was bitte, ist jetzt wichtig? Was stimmt überhaupt? Und ist es uns wirklich wichtig, ob es stimmt? Wer versteht noch das Ganze? Wir drohen den Überblick zu verlieren und entwickeln im Wrestling der Extreme eine ungekannte Vertrauenssehnsucht. Wie erhalten wir unsere Urteilsfähigkeit, wie werden wir zu Kosmopoliten der neuen weiten Welt, die uns zugänglich geworden ist?

Flachsinn – Ich habe Hirn , ich will hier raus

Der Anfang vom Buch…lassen Sie sich ein bisschen in die Thematik hineinziehen…

Das Smartphone vibriert, klingelt oder surrt. Zing! Das ist der Messenger. Eine Melodie von eBay zeigt an, dass eine Auktion in den nächsten Minuten endet. Freunde schicken Fotos, News versprechen uns „Drei Minuten, nach denen du bestimmt lange weinen musst“ oder „Wenn du dieses Bild siehst, wird sich dein Leben auf der Stelle für immer verändern“. Politiker betreiben statt ihrer eigentlichen Arbeit nun simples Selbstmarketing und fordern uns auf, mal schnell unser Verhalten zu ändern – am besten natürlich „langfristig“ und „nachhaltig“. Manager fordern harsch immer mehr Extrameilen von uns ein, die alle ihre (!) Probleme beseitigen, und es gibt für jede Schieflage in unserem Leben Rat von allerlei Coaches und Therapeuten, es gibt Heilslehren und Globuli. Gegen überhaupt alles empören sich unentwegt Spezial-Militante im Netz, meist ganz vehement. Darunter sind viele so genannte Trolle und Hater, sie fluten Hass oder sadistische Obstruktion. Unternehmen mischen sich schmeichelnd mit „gesponsorten“ Meldungen hinein – es sind lästige Wölfe, die dem naiven Rotkäppchen die wunderschönen Blumen tief im Wald zeigen und es vom Wege locken wollen. Sie haben weiße Pfoten (aus einem anderen Märchen).

Ablenkung im Sekundentakt. Ein Hirn-Quickie nach dem nächsten. Ein Tor in Barcelona, eine hühnergrippale Taube auf den Osterinseln. Jetzt wieder verstörende Verschwörungstheorien über geheime Konzentrationslager, unterirdische Städte für Reiche nach dem Atomkrieg, über Chemtrails oder von Black Goo. Was davon, bitte, ist jetzt wichtig? Was stimmt denn nun? Ist es uns überhaupt wichtig, ob es stimmt? Wollen wir wirklich viel Wahres wissen, wirklich eine Menge lernen oder einfach nur Entertainment konsumieren?

Wir erliegen oft rein genussvoll dem Faszinierenden, dem Unbekannten oder dem Schockierenden. Unsere Aufmerksamkeit wird besonders vom Schrillen, Extremen und Exotischen eingefangen. Wir schwelgen. Es gibt eine ganze Industrie, die die Überschwemmung mit solchen Hirn-Quickies dazu nutzt, uns nebenbei per Werbung oder neudeutsch über Ads etwas zu verkaufen oder einzureden. Das wissen wir natürlich, aber wir stören uns nicht so wirklich daran. Rotkäppchen findet die vielen schmeichlerisch freundlichen Wölfe so richtig cool.

Unser Hirn suchte einst nach der Wahrheit, es grübelte, forschte, suchte, diskutierte und stritt. Es gab, sagt man, noch die Geduld, unsere neuen Gedanken sacken und reifen zu lassen. Heute hat unser Hirn die Möglichkeit, alles einfach nur genießend zu konsumieren. Die Ernsthaftigkeit zur wirklichen Auseinandersetzung bleibt auf der Strecke.

„Too much!“ – „Nur Quatsch!“ Vor diesem Zuviel wird heute immer eindringlicher gewarnt. Ja, und wir sollten uns alle an der Nase fassen und uns an die zweite Inschrift am Orakel von Delphi erinnern: Medén àgan, alles mit Maß. „Sieh die Goldene Mitte. Bleib auf dem Weg.“

Da ging der Wolf ein Weilchen neben Rotkäppchen her, dann sprach er: „Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen. Warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig draußen in dem Wald.“ Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, dass ich doch zu rechter Zeit ankomme, lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es, weiter hinaus stände eine schönere, und lief danach und geriet immer tiefer in den Wald hinein.

Erinnern Sie sich an diesen Text aus den Grimmschen Märchen? Den bekamen wir vorgelesen. Blumen und Wölfe lenken uns vom Wege ab, das wird hier das große Thema sein. Im bunten Leben gibt es wundervolle Blumen, giftige Beeren, manchmal essbare Pilze und viele, viele Wölfe mit speziellen Absichten, die Rotkäppchen auf ihre speziellen Abwege führen wollen.

Und wir alle wissen doch noch, was vorher die Mutter zum Rotkäppchen sprach? „Wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Wege ab.“

Unser Wald ist das Internet, und die Wölfe und Blumen des 21. Jahrhunderts sind wie die Werbetreibenden, die Propagandisten, Netzbanditen oder Wahlkampfpolitiker, die uns locken wollen, ihnen unsere Aufmerksamkeit für ihre in Blüten gepackten Absichten zu schenken. Es gibt immer mehr und so vieles, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken wollen und sollen. Leider ist unsere Aufmerksamkeit ein Gut, das wir nur begrenzt zur Verfügung haben und was deshalb umso gieriger umworben wird. Um unsere Aufmerksamkeit einzufangen, sammeln sie Kenntnisse über uns – sie wollen unsere Daten, damit sie uns leichter in ihrem Sinne ablenken können. Wer diese Daten über uns hat, ist im Vorteil. Längst sind die Daten gutes Geld wert, viele sagen, gute Daten seien wie das Erdöl des 21. Jahrhunderts. Denn wer etwas Interessantes zu zeigen hat, kann mit einem bunten Strauß von Werbung drum herum sofort mit dem Verdienen loslegen. Aufmerksamkeit ist die neue Währung unserer Zeit, und die Daten helfen, mehr Aufmerksamkeit zu ernten – so wie gute Siebe wichtig zum Goldwaschen sind.

Wir leben in einer Welt des Überflusses, in der es trotzdem und gerade deswegen gilt, sich selbst und alles andere gut zu verkaufen. Wir selbst ringen um Aufmerksamkeit. Wer bekommt die Mietwohnung in Schwabing? Wir müssen bei der Wohnungsbesichtigung mit dem Immobilienmakler zwanzig andere Familien ausstechen, die sich mit uns um die schön teure Wohnung bemühen. Wir wollen der beste Bewerber unter hundert sein, der diese eine tolle Top-Stelle bekommt. Wir wollen eine Bewerbung einreichen, die so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, dass sie der Personaler nach kürzestem Überfliegen auf den richtigen Stapel der engeren Wahl legt. Auch wir wollen oft händeringend Aufmerksamkeit!

Heute gewinnt oft derjenige, der es versteht, starke positive Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – sofort und auf der Stelle! Blicke einfangen! Den Atem stocken lassen! Ein Werbeplakat muss nach Sekundenbruchteilen in einen Kaufklick münden, sonst vergessen wir das Beworbene unter immer neuen Eindrücken. Ein zu langer Erklärungssatz eines langatmigen Redners im Fernsehen – zapp und weg. Und ein Manager hat heute oft fünfzig Mitarbeiter, die er nur selten persönlich spricht – er hat ja keine Zeit. Daher haben wir oft nur ganz wenige und deshalb wirklich entscheidende Minuten beim Chef: Wie ist sein Eindruck? Bekommen wir jetzt eine günstige Entscheidung?

Mal sind wir Wolf, mal Rotkäppchen. Mal überreden wir, mal werden wir verführt. Wir verlieren uns immer leichter und zeitlich ausgedehnter im Trubel. Wir vergessen heute nur allzu leicht den Rat der Mutter, der uns vor dem Verlassen des rechten Weges warnte. Und nicht nur das: Wir sehen in vielen Fällen den Weg gar nicht mehr. Schon die Unterscheidung zwischen Weg und Abweg wird immer schwieriger. Wir bewegen uns, besonders im Netz, wie in einem „Neuland“, wie uns Angela Merkel so treffend sagte.

Das Aufmerksamkeitsland Internet sieht aus wie ein frühes Amerika in den Wildwestfilmen. Goldgräber in Saloons, Trapper, Viehdiebe, Cowboys und Sheriffs zwischen frommen Puritanern, die doch nur Landwirtschaft betreiben wollen. Sie alle denken an ein Land der Träume und der unbegrenzten Möglichkeiten. Manche aber entgrenzen sich im Namen der Freiheit, die aber verantwortungslos gebraucht wird.

Ich werde mit Ihnen dieses Aufmerksamkeitsland betreten und seine Akteure und seine Gesetzmäßigkeiten beschreiben, wie es sich von früheren Machtwelten unterscheidet. Ein Blick in eine Welt, die mit Wissenschaft und Algorithmen hinter uns her ist, ums uns zu Klicks und Wahlentscheidungen zu bringen, in eine Welt, in der oft die Inhalte (Artikel, Bilder, Meinungen) schon nicht mehr an sich erzeugt werden, sondern nur den schnöden Zweck haben, um die Aufmerksamkeit auf diese Inhalte über lockende Werbeseitenblicke zu monetarisieren.

Verantwortungslose Aufmerksamkeitsprofis spekulieren und zocken in einer neuen Aufmerksamkeitsökonomie. Sie hypen Neues oder Stars und ziehen anschließend alles wieder nieder – es geht zu wie auf dem Aktienmarkt der Lebensmittelspekulanten, also ohne Rücksicht auf Verluste der Produzenten und Menschen. Die Spekulanten lieben besonders die großen Schwankungen (hier die der Aufmerksamkeit), weil diese stets zu großem Rummel führen und alle die Milchmädchen und Affektklicker anlocken – denn die sollen ja die Zeche zahlen!

Das Erzeugen von Rummel ist durch das Netz leichter denn je. Wir werden sehen, dass das Gewimmel an extremen Meinungen, Heilslehren, Management-Patentrezepten und an immer neuen politischen Forderungen ein gewisses inneres System hat. Es gibt da wohl „eine unsichtbare Hand“, die nicht nur die Rhythmen der Ökonomie, sondern auch die der Aufmerksamkeitswirtschaft zu prägen scheint. Und auch privat schielen wir langsam nach den neuen Prinzipien der Aufmerksamkeit. Wir lechzen nach Rummel um uns selbst. Wir pimpen uns nun, wir stellen uns heraus, wir steigern die Zahl unsere Facebook-Freunde und Followers – wir werden von einer Art Sucht ergriffen, wie sie die Zocker am Aktienmarkt befällt.

All das kalkuliert Flache, Sensationelle, Emotionale, Scharfmachende, Niederziehende, Hetzende, Übertreibende, Lärmende und Verführende zum Zweck der Aufmerksamkeitsverwertung will ich hier im Buch Flachsinn nennen. Es neutralisiert sich lärmend gegenseitig, die Extreme heben sich auf, denn das Laute nützt im Lärm ja nichts. Wir registrieren beunruhigt das hektische Hin und Her. Nichts ist beständig gut oder schlecht – nein, alles wird hoch- oder niedergezogen, Wahrheiten scheint es nicht mehr zu geben. Das bipolare Rauf und Runter in Medien, Politik und Wirtschaft hinterlässt eine große Leere und eine Verdrossenheit. Es stiehlt uns unsere Zeit und Energie.

Hilfe! Was ist nun noch wichtig unter all dem Unwichtigen? Wir verbringen immer mehr Stunden mit der Beurteilung, ob etwas ignoriert werden muss (jeden Morgen die Werbemails, Newsletter und unnötigen Kopien) oder ob wir es unserem Gehirn zumuten können. Wir wissen ja genau, dass uns die anderen verführen, belehren und beeinflussen wollen. Wir sollen kaufen, abonnieren, mitziehen, mehr Überstunden machen und bei „Glücksspielen“ mitmachen, die den Betreibern Glück bringen sollen. Manchmal sehnen wir uns nach der guten alten Zeit, als vor allem das Wichtige und Ernsthafte Bestand zu haben schien und uns von den Autoritäten (den „Intellektuellen“ und „Offiziellen“) dargeboten und empfohlen wurde. Wir leiden fast schon wieder unter der Freiheit, unter so vielen Informationen, Videos, Meldungen und News wählen zu müssen. Wie erlangen wir wieder Souveränität im Aufmerksamkeitsland? Viele scheinen überfordert mit dem Problem, die eigene Aufmerksamkeit auf Sinnvolles und Zweckmäßiges zu lenken. Es sieht so aus, als würden sie versinken. Es wird ohne Ende gewarnt. Andere seufzen: „Hilfe, ich habe Hirn, ich will hier raus!“ Wir ahnen: Flachsinn erzeugt Flachsinnige.

Flachsinn für Flachsinnige! Viele Unternehmen und sogar Politiker sind mit uns zufrieden, wenn wir nur anklicken, wählen, kaufen und Jünger aller möglichen Trivial-Heilslehren, Patentrezepte oder Wahlparolen werden. Die Glücksritter der digitalen Welt haben heute noch die Oberhand, sie profitieren von dem herrschenden Chaos im Wandel.

Aber müssen wir dieser Entwicklung ohnmächtig zusehen? Die Wild-West-Zeit des Internetzeitalters wird sich natürlich auch von selbst in ruhigere Bahnen bewegen. Was aber können wir heute schon tun oder wenigstens tapfer ins Auge fassen, um uns tätig zu beruhigen? Zuerst müssen wir eine Art Intelligenz für den Umgang mit Aufmerksamkeit anerkennen, die wir schulen müssen. Zur Bildung gehört es schon immer, das Wichtige und Wertvolle zu erkennen und aus diesem Schatz heraus in der normalen Welt das Tiefsinnige vom Flachsinnigen trennen zu können.

Wir müssten – so denke ich mit Ihnen am Schluss des Buches nach – eine Art „Culture Valley“ haben – nicht nur ein Silicon Valley. Warum nicht ein großer Anlauf mit „Kultur im Netz“? Wo bleiben die Intellektuellen, die uns früher leiteten? Ach, die Geisteswissenschaftler, die sich oft in dieser Rolle fanden, kokettieren heute meist mit einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Digitalen, sie sind also in ihrer selbstgewählten Digital-Isolation nicht mehr sichtbar. „Kommt heraus!“, möchte ich ihnen vor dem Real-Elfenbeinturm rufen.

Die Wirtschaft braucht Stetigkeit, die Politik eine blühende Kultur, wir selbst eine nachhaltige Beständigkeit. Ich rufe auf, das Wilde dieser Zeit in ein neues „Wertvolles“ münden zu lassen. Dazu sollten wir uns gemeinsam anstrengen und die flachsinnigen und unverantwortlichen Schwankungen und den entsprechenden Rummel um nichts durch Besonnenheit und Verantwortlichkeit ablösen.

Lasst uns eine neue Tiefsinnkultur etablieren – Empowerment für alle!