DD215: Deframing – oder der Sinndiebstahl (Mai 2014)

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Deframing – oder der Sinndiebstahl (Daily Dueck 215, Mai 2014)

Mark Twain hat uns das Reframing gelehrt. Das Buch über die Abenteuer von Tom Sawyer ist 1876 erschienen, als es noch keine Psychologie gab. Jetzt sagen alle, es wäre eine Theorie von Aaron T. Beck und hieße ursprünglich „Cognitive Restructuring“. Oder es wäre eine Technik beim NLP.

Na gut, es geht beim Reframing oder beim Restrukturieren darum, einem Vorstellungsbild einen anderen Rahmen umzuhängen. Zum Beispiel sehen die Depressiven die Welt so sehr negativ, dass sie sich hilflos fühlen und gar nichts mehr tun können. Da hilft das Restrukturieren! In den Unternehmen geistert wohl dasselbe als „Positive Thinking“ herum, eine mehr praktische und fokussierte Variante, die den Mitarbeitern negative Gedanken verbietet, sodass sie dann das Gedankengut ihrer naiv permanentbegeisterten Bosse annehmen können.

Tom Sawyer wird bekanntlich von Tante Polly mit der harten und demütigenden Strafe belegt, den Zaun neu zu kalken. Das tut er dann auch unter dem schadenfreudigen Johlen der Dorfjugend. Er schafft es, das Anstreichen ganz ernst und wichtig zu nehmen. Da fragen die Jungen „darf ich auch mal etwas streichen?“, was Tom zunächst ablehnt, aber dann gegen Bezahlung doch noch erlaubt.

Formal gesehen hat Tom den Rahmen „Strafarbeit“ um das Vorstellungsbild seiner Arbeit durch den neuen Rahmen „Freude, etwas Herausforderndes zu bewältigen“ ersetzt. Wenn man seine Arbeit im Rahmen „Strafe“ betrachtet, johlt man. Wer sie aber im Rahmen „Challenge“ erblickt, will mitmachen.

Es ist also geschickt, einen prächtigen Rahmen um ein Vorstellungsbild zu hängen. Wenn ich Ihr Chef bin, hänge ich um Ihre „Arbeit“ den Rahmen „Selbstverwirklichung“, dann zahlen Sie mir vielleicht Lohn dafür. Tom Sawyer schaffte das. Die Psychologen arbeiten noch an dieser extremen Variante, ihre Techniken sind noch zu theorielastig.

Ich sehe auf der ganz anderen Seite eine andere Tendenz, die wohl noch keinem aufgefallen ist, ich musste erst noch das Wort Deframing dafür erfinden. Es geht darum, den Rahmen um eine Vorstellung ganz abzunehmen oder durch einen sehr funktionell einfachen Rahmen zu ersetzen. Dadurch wird das Ganze nüchterner. Es führt manchmal auch zu relativem Frust. Egal, Hauptsache der Rahmen ist weg.

Da gibt es in manchen Berufen, im Design oder in der IT, beim Texten, Predigen oder Singen so etwas wie eine „Berufung“, es fühlt sich wundervoll an, berufen zu sein. Dann aber sagt der Chef: „Lassen Sie diesen Schnickschnack. Es muss nicht beliebig gut sein, es geht mir nur um das Geld.“ Zong, der Rahmen „Verwirklichung“ ist durch „Diene meinen Zwecken“ ausgetauscht worden.

Früher gingen wir zur Schule, um sie als Hochgebildeter zu verlassen, das fühlten wir auf der Universität noch mehr. Wir wollten Einwohner der Gelehrtenrepublik werden. Deframe: Es geht nur noch darum, Eingangsvoraussetzungen zur nächsten Stufe zu erfüllen. Deframe: Das G8 vermittelt nur noch Stoff, Zeit zur Erziehung ist nicht mehr geplant. Deframe: Der Bachelor lernt nur noch „verschult“. Wer keine „Persönlichkeit“ von zuhause mitbringt, wird dann im Beruf ausgesiebt. Der wertvolle Mensch hatte den Rahmen „Gottes Kind“. Deframe: „Handelsware, gut und günstig, JA!“

Noch schlimmer sind sinnlose Prozesse. Da wird nicht einmal ein neuer Billigrahmen eingesetzt, da ist manchmal gar keiner mehr! „Dieses Einkaufssystem ist nur dann profitabel, wenn Sie für mehr als 50 Euro Original-HP-Patronen bestellen. Unter 50 Euro lohnt es sich nicht für uns, tätig zu werden.“ – „Ich will aber nur eine, die trocknen sonst aus.“ – „Geht nicht! Also drei?“ – „Ja, gut, dann drei.“ – „Hallo? Die Prüfung Ihrer Bestellung ergab: Dieses Einkaufssystem ist nicht berechtigt, Original-HP-Tintenpatronen zu beschaffen, weil die zu teuer sind. Wir sollen welche für 4,99 Euro no name kaufen.“ – „Okay, dann zehn, aber die trocknen aus.“ – „Meinten Sie elf?“ – „Sie trocknen aus.“ – „Danke für die Bestellung.“

Vor ein paar Tagen gingen wir beim schönsten Wetter um den Titisee herum. Mindestens drei Kinder kreischten gellend auf dem Weg wie Todesschreie. Eins keuchte zwischendurch hervor: „Selbst laufen!“ – Eines rief im Staccato: „Ich will laufen!“ Eins war noch zu klein, es schrie. Sie schrien verzweifelt, aber Mutter und Vater schoben sie im Buggy. Später wird man ihnen vorwerfen, nicht die Natur und nicht die Muße des Spazierengehens zu lieben, später werden sie arbeiten, etwa so:

„Ich muss meine Arbeitsstunden genau reporten. Jede Woche mindestens vierzig. Ich arbeite an einem Projekt, was erst in drei Monaten endet. Jetzt beginnt aber gerade ein großes neues Projekt, in dem ich meine Berufung sehe. Ich habe mich einfach als verfügbar gemeldet und arbeite dort mit. Ich will es schaffen, für die kurze Zeit an beiden Projekten gleichzeitig zu arbeiten, damit ich in mein Traumprojekt komme. Das sind 80 Stunden die Woche, die von den jeweiligen Kunden bezahlt werden. Ich rette dadurch den Gewinn meiner Abteilung. Ich arbeite Tag und Nacht, aber den ganzen Sonntag bilde ich mich weiter, acht Stunden lang, damit ich alles Fachwissen im neuen Projekt habe. Nach der ersten Woche meiner Herkulesarbeit habe ich im System achtzig bezahlte Stunden und acht Bildungsstunden reportet. Das System sagt aber, das sei nicht zulässig, weil wir nur zehn Prozent Weiterbildung reporten dürfen – weil wir ja sonst nicht genug arbeiten. Mein Manager schimpft, weil ich ungültige Zahlen eingegeben habe. Ich rechne für ihn nach, dass es nur zehn Prozent Weiterbildung sind. Er telefoniert einen halben Tag herum und findet heraus, dass es nur zehn Prozent von VIERZG sein dürfen. Er befiehlt mir, nur vier Stunden Weiterbildung einzugeben. Ich will das nicht, weil es mich kränkt. Rette ich denn nicht seine Abteilung? Ist es nicht auch verboten, an zwei Projekten gleichzeitig zu arbeiten? Ist es nicht arbeitsrechtlich total unzulässig, 88 Stunden die Woche zu malochen? Es interessiert ihn nicht, für ihn ist nur verboten, wenn das System meckert. Ich diskutiere das mit ihm. Er wird sehr böse und erklärt mich für absurd dumm, dass ich nicht endlich kapiere, dass es nur auf das System ankommt… Ich glaube, ich muss kündigen. Mich friert.“

Solche Mails bekomme ich öfter (zweifelhaft gerne), es sind meist Klagen über andere Unternehmen als Sie denken. DEFRAME ist überall! Was sollen wir nur tun? Sollen wir es wie das Management handhaben und den Rahmen durch grundlose Begeisterung ersetzen? Werden wir mit dieser großartigen Fähigkeit dann auch zu Managern befördert? Braucht man so viele? In welchem Rahmen?

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15 Antworten

  1. Wieder mal hervorragend analysiert!
    Die Frage ist aber auch: Haben wir uns alle das nicht selbst eingebrockt? Wahrscheinlich nicht alle, aber diejenigen, die es so wollten. Nach GDs Philosophie sind das wohl die „Bauernartigen“ evtl. mit Unterstützung der „Techies“.
    An der „Spitze der Bewegung“ sitzen dann sicher die Soziopathen, die sich derartige Gedanken, wie im Beitrag geäußert, gar nicht machen. Für die existiert die beschriebene Problematik überhaupt nicht!
    Nach diversen Untersuchungen sitzen aber genau diese Soziopathen mehrheitlich in großen, börsennotierten Unternehmensspitzen.
    Zum Glück gibt es auch viele kleine und sehr kleine Unternehmen, in denen die Soziopathen nicht vorne dran sitzen.

  2. Da wird immer wieder von Burn-Out geschrieben, der ehrenwerten Krankheit des angeblich zu viel Arbeitens. Aber es geht überhaupt nicht um die Arbeitsmenge, auch und nicht mal um die „Beschleunigung“, auch nicht um „digitale Demenz“ und andere Pseudoursachen.

    Sondern dass sich das verbo(r)gene innere Kind irgendwann im Leben gegen sinnlose Geschäftigkeit wehrt, die nicht nur nicht seinen eigenen Anlagen und seinem Wunsch, ehrlich beizutragen, zuwiderläuft, sondern auch jedem anderen „inneren“ Sinn. Im bestenfall sinn-los ist, im schlimmsten erkennbar schädlich ist.

    Woher kommt dies Wandlung? Das ist schleichend erfolgt. Du denkst zu viel, das mögen Arbeitgeber nicht, so wenig wie Papi und Mami. Wenn du dich anstrengst, die Dinge genau wissen willst, dann zwingst du damit ja auch alle anderen aus der Bequemlichkeit. Auch der akademische Betrieb läuft so: welcher Prof will denn eine neue Lösung? Unbequem und demütigend wäre das, „lieber“ liest er in jedem Semester das, was er eh schon erwartet hat und was er so gut kennt, dass er das Ergebnis beurteilen kann…

    Ich habe mal gelesen, dass manche Seevögel ihre Jungen dadruch töten, dass sie die Plastikteilchen, die dank unserer gedankenlosen Verschwendung mittlerweile das Meer überfluten, an ihre Jungen verfüttern, die dadurch verhungern. DAS ist es, was auch Bildung heute zunehmend bewirkt: da wird mit irgendwas volgestopft, das nicht nährt, sondern das Hirn verklebt und verstopft. Die Fähigkeiten werden nicht genutzt, sondern ihre Entwicklung verhindert.

    Zynisch könnte man sagen, was solls, es werden dank Automatisierung eh nicht mehr so viele gebraucht.

    Wie kommt man davon wieder weg? Wenn ichs wüsste… . Das Denken müsste wieder „Mode“ werden … aber es zuzulassen ist unbequem. Lieber Kinder, deren Fragen man wegverwöhnt.

  3. Das mit der „grundlosen Begeisterung“ kenne ich am eigenen Leib. Früher gab es das ab und an bei mir auch mal so, war so eine Macke. Allerdings führte das Halsmuskelzusammenziehen dabei fast immer zu Zerrungen derselben. Selber schuld!

    Sinnlose Prozesse sind doch heute das Salz in der Suppe, es wimmelt von Ihnen. Man muß sich beugen und mitmachen – wie das kopfmässig geht? Naja, wenn die Halsmuskulatur mithilft, gehts schon.

    1. „Sinndiebstahl“, das gab es eigentlich bisher noch nicht als Wort. „Sinnentleert“ schon. Oder sinnentfremded, obwohl das ja was anderes bezeichnet.

  4. An Leo und Gunter,

    toller Beitrag – wieder einmal !
    Der Zeitpunkt, an dem genau DAS real war „Denken ist schick“ – das hatten wir Anfang der 60er Jahre.
    Schaut man sich aus dieser Zeit die Filme, die Diskussionen, die Bücher an – egal ob in Deutschland, Frankreich, England oder Spanien – mit ein wenig Abstand auch USA – so sieht man sehr schnell, dass jemand nur dann den „Mund aufgemacht“ hat, wenn er fundiert etwas zu sagen hatte. Heute „brabbelt“ die ganze Welt auf Fratzeboo, zwitschert sinnentferntes Zeugs und W-Appelt so vor sich her, dass derjenige nach kurzer Zeit schon nicht mehr weiß, was er eigentlich meinte.
    Sagt es jedem, der er hören will – oder auch nicht: das reale Leben ist toll und es lohnt sich etwas darüber zu erfahren !

    in diesem Sinne………logoff.
    Karl

    1. Das mit „Leben“ ist völlig richtig.

      Es fängt an, wenn man aufhört, Risiken zu vermeiden. Sondern anfängt, sie einzugehen.

  5. geht es nur mir so, oder könnt auch ihr herrn dueck „hören“ und vor dem geistigen auge sehen wie er das oben verfasste in einer rede vorträgt? […]Es muss nicht beliebig gut sein, es geht mir nur um das Geld.“ Zong,[…]. das hat mir sehr viel spaß gemacht. besonders deswegen, weil es stimmt. sehr gut beobachtet und auf den punkt kommentiert herr dueck. danke.

  6. Ich habe jetzt eine ganze Weile darüber gegrübelt..
    Deframing ist ein schönes, brauchbares, neues Wort (newspeak?) also de-framing, aber so wie es dargestellt wird, ist es selber ge-framed, nämlich im Sinne von Enttäuschung.
    Könnte man nicht auch sagen, auch im Sinne von ent-täuschend?
    Könnte man das Wort Deframing nicht auch reframen im positiven Sinne?

    Ich glaube, der Begriff Deframing löst bei mir – zugegeben, nach einem satten Glas Wodka-Lemon – eine Rekursion aus. Wenn man Deframing deframed *öhm* ôÔ

    Viele liebe Grüße aus einem kleinen Kaff im Taunus
    waldbaer

  7. Brilliant geschrieben. Kann ich vollinhalltich flankieren. Nur ein kleiner Fehler hat sich eingeschlichen: Das Traumprojekt. Für uns normale Drohnen gibt es keine Traumprojekte. Wir werden verheitzt. Wer heute im Arbeitsleben noch glaubt, sich im Sinn des Wortes _verwirklichen_ zu können, gehört entweder zu dem millionstel Promill derer, die nicht gnandenlos vernutzt werden oder belügt sich selbst (oder hat noch keine Erfahrung im Berufsleben.)

    Ich habe mich bereits deframed. Ich tue nur noch, wozu ich gezwungen werden kann. Das mag defaitistisch klingen und richtig gut geht es mir damit auch nicht, aber jede Alternative ist noch grausamer. Es gibt genug Lügner und Ausbeuter um mich herum, ich muss mich nicht auch noch selbst belügen und ausbeuten.

    1. Oh doch, es gibt das „Traumprojekt“, denn „Selbstverwirklichung“ und „Ausbeutung“ sind nur ein scheinbarer Widerspruch. Auch wenn ich ausgebeutet werde, kann ich das in interessanteren oder weniger interessanten Projekten werden. 😉

      Das ändert natürlich nichts daran, dass es selten dämlich ist, „80“ Stunden die Woche zu arbeiten, um dabei sein zu können. Und ich darf den Sinn natürlich dennoch woanders sehen, als mein Chef 😉

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