DD202 Ethnozentrismus (Oktober 2013)

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DD202 Ethnozentrismus (Oktober 2013)

 

Die Grünen können unmöglich zusammen mit den Konservativen die Verantwortung für den Staat übernehmen – wenn sie die Mehrheit im Parlament hätten, dann aber schon? Dann könnten Sie doch sinnvoll über alle Konservativen herrschen, mit denen man eigentlich nicht reden kann? Die Sozialdemokraten können unmöglich mit den Linken etwas Gemeinsames unternehmen, man kann sich mit solchen Leuten unmöglich besprechen. Die Schalker Fans können Dortmunder absolut nicht verstehen und umgekehrt. Frauen lassen derzeit kein gutes Haar an den Männern, von denen sie sich entrechtet fühlen. Vielen Männern geht es zu weit: „Die Schule behandelt Jungen wie defekte Mädchen“, habe ich neulich irgendwo gelesen und ich dachte nach, wie das bei Älteren gesehen wird. Vegetarier verachten Allesfresser, die Tea-Party die Demokraten, die Nichtraucher die Raucher und und und.

Es geht mir irgendwie zu weit. Nicht das Sachliche, sondern die Emotionalität gegenüber dem jeweils anderen. Meistens (nicht immer, ich weiß!) – meistens, sage ich, verstehen sich die beiden Parteien nicht, und so etwas wie Empathie kommt nicht einmal in ihre Nähe. Immer mehr Ethnozentrismus breitet sich aus.

 

Aus der Wikipedia: Der Begriff wird auf den US-Soziologen William Graham Sumner zurückgeführt, der in seinem Buch Folkways (1906) „Ethnozentrismus“ so definierte: „Ethnozentrismus ist der Fachausdruck für jene Sicht der Dinge, in welcher die eigene Gruppe der Mittelpunkt von Allem ist und alle anderen mit Bezug darauf bemessen und bewertet werden.“ Sumner hat „Ethnozentrismus“ nicht auf „Volk“ reduziert, sondern den Begriff sehr umfassend auf die Gruppe bezogen, der ein Mensch sich selbst zuordnet: „Jede Gruppe denkt, ihre Lebensweisen [folkways] seien die richtigen.“

 

Ein kleines Beispiel, ganz harmlos: Ein Extrovertierter grüßt einen Introvertierten auf dem Flur, der aber grüßt nicht zurück. Da durchzuckt es den Extro: Er wird doch tatsächlich geschnitten! Der Intro ist feindlich! Extrovertierte müssen immer Verbindung aufnehmen, müssen laut grüßen, laut Danke und Bitte sagen – und wenn das einer nicht tut, dann hat er kein Benehmen! Wenn einer auf der Straße im Dunklen nicht grüßt, könnte er ein Verbrecher sein – bestimmt ist er so etwas! Introvertierte (zum Beispiel Mathematiker wie ich) denken tief nach und sind oft „versunken“ – sie bemerken die anderen gar nicht. Und manchmal – mitten in die wichtigsten Gedanken hinein, platzt ein Extrovertierter mit einem schallenden HALLO in die Gedanken hinein, das ist sehr ärgerlich. Es reißt den Introvertierten aus seiner Konzentration – für nichts und wieder nichts. Er soll einfach HALLO zurückbrüllen, nichts weiter! Gehört sich das? Der Intro ist wütend. Extrovertierte sind ekelhaft aufdringlich, das dauernde Hallo dieser Menschen ist wie Hundeduftmarkensetzen an jedem Hosenbein, sie stecken nur ihr Revier ab! So etwas machen Introvertierte als selbstgefühlt bessere Menschen ganz bestimmt nicht, sie sprechen andere nicht invasiv und ohne Grund an, sie belästigen nie und niemanden. Deshalb sind sie so höflich, andere nicht dauernd zu grüßen, besonders nicht im Dunklen auf der Straße, um niemandem Angst einzuflößen…

Was kommt heraus? Ethnozentrismus vom Feinsten – zwei Gruppen stehen sich feindlich gegenüber. Da die Extrovertierten (durch Erziehung dazu?) die Mehrheit bilden, forcieren sie, dass Extrovertiertheit Voraussetzung beim Stellenbewerbern ist: „Der ideale Bewerber geht offen auf Menschen zu und grüßt jeden aktiv.“ So wird aus Missverständnissen eine Diktatur irgendeiner Mehrheit, ausgelöst durch mangelnde Empathie BEIDER Seiten. Insbesondere die Mehrheiten fühlen sich für Empathie nicht zuständig, weil „man“ so denkt und handelt – basta! Insbesondere die Minderheiten fühlen sich für Empathie nicht verantwortlich, weil sie ja gegen die tumbe Masse rebellieren müssen.

 

So beginnen die Schlachten der Perfekten gegen die Unbekümmerten, der Facebookhasser gegen ihre Kinder, der „Digital Enlightened“ gegen die Digital Dementen.

 

Und die Unbeteiligten, die dem Streit noch unverständig zuschauen, werden an die Front gezwungen: „Dafür oder dagegen?“ – „Für die Frauenquote oder dagegen?“ – „Für Mindestlohn oder unternehmerische Freiheit?“ Die ganze Wirtschaft wird auf „Smith oder Keynes“ reduziert, bzw. auf „Freiheit oder Staat“.

Die TV-Talkshows sind in diesem Sinne gewollte und planmäßig so konzipierte ethnozentristische Feiern oder Turniere. Wer etwas dazwischen sagt, wird von BEIDEN Seiten für einen Feind gehalten, weil die Mitte aus Sicht des Extrems schon zu weit weg ist.

 

Gemäßigt ist nicht mehr Mode, oder? Aber sie alle wollen die alten Werte wieder zurück! „Maß halten!“, rief Ludwig Erhard. Und „Sophrosyne!“ der maßgebende Platon. Nur wenn wir rosarot lieben, singen wir: „Ich hab dich lieb, genau wie du bist.“ Und bald wieder anders: „Du willst nicht sein wie ich, da passen wir nicht zusammen.“ Meistens passen wir nicht zusammen. Das kommt irgendwie so, weil wir nichts dagegen tun – wir erkennen den Mechanismus des Ethnozentrisierens nicht, nicht einmal und vielleicht besonders nicht in uns selbst.

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20 Antworten

  1. Zwei Anmerkungen zur Botschaft zwischen den Zeilen des DD:

    1. Allen wohl und niemand weh: Karneval beim MCC

    2. John F. Kennedy: „Die heissesten Plätze in der Hölle sind jenen vorbehalten, die in Zeiten der Krise nicht Partei ergreifen.“

    Im übrigen: Bei Kinderschändern wie Cohn-Bendit hört bei mir die Gelassenheit auf.

  2. Steter Tropfen höhlt den Stein. In den Sprüchen meiner Urgroßmutter lag schon das ganze Wissen was wir uns, das Leben betreffend, anzueignen vermögen.

    Ich verstand ihn mit 30. Laut meiner Umwelt 30 Jahre zu früh.

    Vielleicht verschiebt Ihr Text und Ihre Bemühungen die Grenze ja um ein paar Jahre nach unten. Ich konnte das nie leisten.

    Wünsche Ihnen viel Kraft, viele Tropfen

  3. …ein kritisches Thema auf es sich immer wieder hinzuweisen lohnt, vielen Dank Herr Dueck. Nur stellt sich dann die nächste Frage: Für die allermeisten Menschen sind solche ethnozentristischen Welt- und Selbstmodelle höchst identitätsstiftend, nach dem Motto „Ich bin wie die, zu denen ich mich zugehörig fühle“. Wenn sich übertriebener, einseitiger Ethnozentrismus verringern soll, bedeutet das Notwendigkeit eines neuen, meist differenzierteren und komplexeren Identitätsmodells. Keine einfache Entwicklungsaufgabe in einer Welt in der die meisten wieder nach Komplexitätsreduktion rufen. Hoffen wir Entwicklungsmodelle wie spiral dynamics sind zutreffend – wobei mir der weltzentrische Ottonormalbürger angesichts der von Ihnen zitierten tagtäglichen Polarisierungen noch als eine sehr optimistische Annahme erscheint.

  4. > Im übrigen: Bei Kinderschändern wie Cohn-Bendit hört bei mir die Gelassenheit auf.

    Ja, ganz toll. Emotionslogiker-Urteile sind die besten. Da war doch letztens erst der fall, wo einer 17 Jahre deswegen eingesperrt war. Viel zuwenig, rufen Sie? Todessstrafe wäre angemessen?

    Ok, wenn Sie das sagen … ach, eins noch: Der Mann war komplett unschuldig.

    1. Hallo „Name“,
      aber, aber! Wohl nicht die FAZ gelesen? Dort wurde von einem Redakteur der TAZ über die Verstrickung der Grünen in die Pädophile berichtet. Und Cohn-Bendit hat Anfang der 80er selbst über seine Hosenschlitz-Manipulationen berichtet und „Genehmigungen“ der Eltern beigebracht, die ihm bestätigten, dass so etwas zur Erziehung zu selbstbestimmten Menschen dazu gehöre.

      Merke: Die Grünen sind eine Kirche und keine Partei. Sie glauben an sich!

  5. Ich frage mich, ob die Tendenz der Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit dem intensiven Einsetzen und Abgrenzen die ehrliche Auseinandersetzung mit seinem Selbst ersetzen soll?

    Sich für sich selbst einzusetzen und zu lernen, sich abzugrenzen und offen zu sich selbst zu stehen ist anstrengender als für eine Gruppe.

  6. Demokratie ist die Herrschaftsform, bei der Mehrheiten über Minderheiten herrschen und die bestehende Generationen auf Kosten von zukünftigen Generation leben. Kein halbwegs gebildeter und gutverdienender Mensch würde privat zusätzlich Kredite aufnehmen, um für den Moment davon besser zu leben. Der Staat tut genau dies, er konsumiert auf Pump. Diese Mantra von Milliarden von Staatsschulden ist schrecklich.

  7. „divide et impera“ 😉

    Software Patente, „Closed Source“, Geschäftsgeheimnis und Geheimdienste. Eine Gesellschaft die dazu „verdammt“ ist sich immer weiter auseinander zu entwicklen….

    Wirklich? Oder, warum „rennen“ den alle zum Fratzenbuch oder G+ ?! Warum hat noch nicht jede NGO ihren „eigenen“ Diaspora-Pod ?!

    Sobald sich so etwas wie eine (soziale) Gruppe (uni?!) „formiert“ werden auch gleich Ausschluss regeln, äh „Vereinsstatuten“ (o.ä.) festgeschrieben. IMHO wird immer nur nach dem „Alleinstellungsmerkmal“ gesucht. Wo bleibt die Suche nach dem was uns verbindet?

    Danke für die Omnisophie

  8. Schmunzeln über unsere individuellen Eigenheiten ist angebracht. Nicht alles ist mit Dualismus ausführlich beschrieben. Jedes ich glänzt doch für sich. Langeweile denen, die sich vor den Gegensätzklichen fürchten. Bin ich das Licht des Tages fürchte ich mich nicht vor der Nacht, denn die ist nur ein schatten!

  9. Vielleicht ist „Ethnozentrismus“ der kleine, harmlose Bruder von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

    Wie weiter oben schon geschrieben wurde, ist es ziemlich menschlich, das eigene Selbst über die Abgrenzung zu Anderen zu bilden. Ganz sicher ist es einfacher zu sagen, „ich bin nicht, wie die sind“, als in sich zu schauen und zu überlegen, wer man ist.

    Ethnozentrismus wäre also eine Strategie, sich das Leben zu erleichtern und Komplexität abzubauen.

    Vielleicht ist es zudem so, dass der Ethnozentrismus heute eher beobachtet werden kann als früher, weil die Gesellschaft in kleinere Einheiten zergliedert ist und jeder sein Süppchen kochen kann und es zu jedem dieser Süppchen auch ein Gegensüppchen gibt – was ja sehr schön im DD beschrieben wurde.

    Darum würde ich den Ethnozentrismus als den kleinen, nervigen, aber ungefährlichen Bruder des Rassismus, Sexismus oder der Fremdenfeindlichkeit bezeichnen. Letztere brauchen größere Gruppen und neigen zu Gewaltausbrüchen.

    Da der Ethnozentrismus also das Leben erleichtert (Komplexitätsreduktion) und eher nervig als gefährlich ist, sehe ich ihn anders als dieser DD in einem positiven Licht. Wobei man natürlich immer aufpassen muss, dass der „kleine Bruder“ sich nicht zu einem großen Bruder auswächst.

    ps. Vielen Dank für die allerallermeistens tollen Denkanstöße.

    1. Es gibt Eltern, die sehr penibel ordentlich sind. Es gibt Kinder, die unbekümmert sorglos sind und nicht aufräumen. Der Ethnozentrismus zwischen diesen Gruppen ist wohl zerstörerischer als selbst das Härteste Abstrakte sonst…oder? Gibt noch mehr Beispiele von „unerkannten“ Fronten, die finde ich gefährlicher als die erkannten.

    1. Der andere hat für SICH recht… das ist dann kein so schönes Zitat mehr, aber Toleranz geht für mich etwas weiter als bei Tucholsky…oder auch nicht, er mag es weiter gemeint haben!

  10. Danke für den schönen Artikel. Macht Spass sowas zu lesen. Blog abonniert 🙂
    Herz Hirn, Hand und Verstand. Humor und Verzeihlichkeit und es flutscht doch etwas besser.

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