DD237: Über Opferanoden, Sündenböcke, die aggressionspsychologische Spannungsreihe und Pegida (April 2015)

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DD237: Über Opferanoden, Sündenböcke, die aggressionspsychologische Spannungsreihe und Pegida (April 2015)

Bei einer Ingenieursveranstaltung hörte ich zum ersten Mal dieses Wort: Opferanode. Es faszinierte mich.

Opferanoden sind unedlere Metalle, die man mit edleren leitend verbindet. Das erzeugt eine Spannung zwischen den beiden Metallen, und es fließt Strom zum edleren Metall (wir haben das alle einmal unter „Batterie“ gelernt). Durch diesen Fluss von Elektronen zum edleren Metall hin wird dieses vor Oxidation geschützt. Das unedlere Metall rostet, das edlere nicht. Das unedle Metall ist das Opfer!

Dieses Opfer bringt man den edlen Metallen zuliebe. Man verbindet sie deshalb mit Opfer und schützt sie vor Korrosion.

Nun muss man nur noch wissen, was „edler“ ist. Das erfährt man aus der elektrochemischen Spannungsreihe: Gold  Eisen  Zink  Magnesium. Deshalb verbindet man Schiffsschrauben mit Zink, weil die sonst sehr unter Salzwasser leiden würden! Das Zink oxidiert, die Schraube bleibt blank.

Da fiel mir sofort ein, dass es so etwas in menschlichen Beziehungen auch geben muss. Da fließt nämlich auch so etwas wie Strom! Ein Vater macht den Kindern Strom, die Mutter dem Vater, die Schwiegermutter der Mutter, der Arzt der Schwiegermutter – so etwa, in unendlicher Variation. Es gibt bestimmt eine aggressionspsychologische Spannungsreihe – ganz sicher! Jeder macht anderen Strom, so gut er kann, er teilt aus. Er bekommt Strom von anderen, er steckt ein.

Und die Frage ist: Wo bleibt der Strom und wer von uns korrodiert am Ende? Sagen nicht die Therapeuten, dass in psychisch kranken Familien oder Systemen immer nur die jeweils Schwächsten zur Therapie gebracht werden, um dort die ganze Spannung des Systems abzuladen, also beim Psychologen zu erden? Man denkt unwillkürlich darüber nach, ob die Leute in der Therapie überhaupt die wirklich Kranken sind – sind es etwa einfach nur die, die den Strom abbekamen?

Ich habe in der Wikipedia unter dem Stichwort „Sündenbock“ nachgeschaut. Da steht etwas dazu, einen richtigen guten Abschnitt zitiere ich einfach, der passt genau!

Die soziale Rolle des Sündenbocks lässt sich auch einer ganzen Gruppe von Menschen per Attribution zuweisen. Sind Menschen frustriert oder unglücklich, richten sie ihre Aggression oft auf Gruppen, die unbeliebt, leicht identifizierbar und machtlos sind.

Dies kann auch mittels einer durch Machteliten verbreiteten Ideologie geschehen, die ein Feindbild bewusst entwickelt mit dem Ziel, bestimmte soziale, ethnische oder politische Minderheiten zum Sündenbock für aktuelle Krisenerscheinungen zu machen oder von der eigenen mangelnden oder schwindenden Legitimation abzulenken (siehe zum Beispiel Holocaust). Eine solche Projektion auf einen Sündenbock kann für die Bevölkerungsmehrheit identitätsstiftende Funktion bekommen.

Der Soziologe Lewis A. Coser hat 1964 in Sociological Theory den Begriff „Sündenbock“ in Bezug auf die Verschiebung von nicht direkt ausfechtbaren sozialen Konflikten (realistic conflicts) auf abstraktere, aber ausfechtbare Konfliktebenen (unrealistic conflicts) verwendet.

Der Religionsphilosoph René Girard machte in seiner Anthropologie aus dem von ihm so benannten „Sündenbockmechanismus“ (engl. Scapegoating) eine grundlegende Hypothese über die Entstehung der menschlichen Kultur: Gebraucht wird der Sündenbock, wenn die Gemeinschaft innerlich zerrissen ist oder sich von einer Katastrophe bedroht fühlt. Indem eine falsche kausale Verbindung zwischen Bedrohung und dem ausgewählten Sündenbock hergestellt wird, kann das Übel veräußert und die Gemeinschaft wieder geeinigt und stabilisiert werden.

Wer bekommt den Strom ab? Manager schimpfen, am Ende schlucken alles die Extrameilenverweigerer oder Minderleister. Eltern schimpfen und irgendwo wird ein Kind mit der Zeit dunkler und dunkler zum schwarzen Schaf. Die Staaten stöhnen allesamt unter ihren irreal hohen Schulden und lokalisieren das Hauptproblem in einem kleinen Land an der Peripherie. Die Pegida-Bewegung in Dresden (wo es bekanntlich kaum Ausländer gibt) sieht die Gefahr in der fremden Ferne.

Man wird die Spannung los, indem man eine falsche kausale Verbindung zwischen dem eigenen Frust und dem Sündenbock herstellt. Diese falsche kausale Verbindung ist das Analogon zur leitenden Verbindung zwischen dem edleren und dem unedleren Metall.

Die Opferanoden entstehen durch die bewusste und absichtliche Verbindung des Schützenswürdigen zum Opfer. So mag es unter Menschen auch sein, oder?

Leute, seht zu, dass der Sündenbock recht weit weg ist. Der braucht dann zwar eine lange Leitung, aber man sieht nicht, wo der Strom endet. Coser spricht von einem „realistic conflict“, wenn sich Leute über fremde Nachbarn ärgern oder eine Frau sich in der Abteilung unterbezahlt fühlt. Man löst diese Konflikte doch nicht etwa persönlich und sofort auf der Stelle, nein, sie werden zu einem „unrealistic conflict“ abstrahiert! Man schimpft über „das Fremde“ oder „das Ungerechte“ an sich. So wird die Spannung entladen, ohne dass sich etwas tut.

Wenn zum Beispiel in einem Unternehmen ein Problem gesehen wird, ernennt man als Opferanode einen Vice President, der es wegmachen soll. Er soll zum Beispiel Geschlechtergerechtigkeit schaffen, Innovationen regnen lassen, Mitarbeiterwellness erzeugen – was immer. Er ist der Sündenbock! Er schafft es natürlich nicht allein, die Unternehmenskultur zu verändern, aber es wäre seine Aufgabe gewesen. Das Übel ist natürlich noch da, aber jetzt trägt jemand klar erkennbar ernannt die Schuld daran. Man hat nämlich eine bewusst falsche kausale Verbindung zwischen dem Problem und dem Vice President geschaffen: „Wenn Beförderung zum Vice President für XYZ, dann XYZ.“

Es ist wunderbar einfach, die Probleme am besten ganz irreal zu abstrahieren! Ernennt Beauftragte, gründet Ausschüsse, macht Studien zur Voruntersuchung, sucht schwache Schuldige! Dann kann alles so bleiben und der Frust ist woanders.

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10 Antworten

  1. Dem Text zur Opferanode fehlt der Hinweis, dass im Fall der Schiffsschraube die Opferanode dafür sorgt, dass die Schraube frei von Rost bleibt (das steht natürlich im Text, aber der positive Zusammenhang wird nicht gewürdigt). Wenn man das Bild überträgt, z.B. auf Pediga, dann hat die Opferanode auch hier die Aufgabe, die Menschen sauber zu halten.

    Die interessante Frage ist, wie können sich die Masse der Menschen sauber halten ohne eine solche Opferanode? Wie können Menschengruppen die Spannungen innerhalb aushalten ohne diesen Spannungsableiter?

  2. Meine Idee vor einigen Jahren:

    Die Verwantwortungs GmbH!

    Wir übernehmen Ihre Verantwortung für einen Festpreis. Wenn dann alles den Bach runtergeht, tragen wir die Konsequenzen für Sie!

    Wie?
    Wir treten zurück!

    Wow, das Wortspiel fällt mir heute das erste Mal auf.

  3. Das sind die Humans. Sie brauchen kein großes Unternehmen und die Sozialisierung beginnt. Bis auf die Menschen sozialisiert sich dort alles. Schulden, Kosten, Arbeit zumeist beim Nachbarn – die Frage bei welchem beantwortet die Unternehmenskultur. Der legendäre Affe auf der Schulter wird dressiert. Das ist Aufgabe von Management.

    Seien sie froh, dass sie in Pension sind und aus der Ferne über die Arbeitswelt können schmunzeln. Sie werden sehen mit der entsprechenden Distanz werden aus den zu Beginn noch vergossenen Tränen Lachkrämpfe.

    Zu Pegida. Die Errungenschaft von Hartz IV Arbeit nicht über Lohn abzubilden ist doch eine interessante Variation. Die Zuwanderer haben gar nichts, aber auch gar nichts im ersten Moment mit der An- oder Abwesenheit von Wohlstand in .de zu tun. Ich denke es ist für Deutsche doch eher schwer, dass sie nicht für Arbeit im Betrieb bezahlt werden. Seit dem Ablösen von Produktivtät von der ‚Muskelkraft‘ im weiteren Sinne steigt entlang der erzielbaren Preise die potentiell verschuldbare Eselei mit an. Der Preis am Ende bestimmt die Freiräume. Die Entlohnung ist mit der Produktivität gekoppelt und nicht der Arbeit. Das Einkommen hängt vom Tausch ab und sonst nichts.

    Der Rest umfasst eher die Entscheidung des Grads an Partizipation in der Bandbreite – das Unternehmen indirekt über die Mitwirkung im Betrieb soweit am laufen zu halten solange das Einkommen abgegriffen werden kann vs. dahinter zu gehen. Das ist limitiert durch den Preis. Diese Bandbreite wird durch Unterhaltungsveranstaltungen gefüllt. Kein Wunder, dass Menschen verwirrt sind.

    Man muss Arbeit loslassen können um den Tausch zu entfesseln. Die Weitergabe von Wohlstand über Produkte ist sowieso schon ad absurdum geführt. Zumeist in den Fällen von denen sie berichten.

    Ich denke nicht, dass sich Pegida ähnlich verhält wie vor doch geraumer Zeit die Lage mit den Zuwanderern aus den Kolonien.

  4. Hallo Herr Dueck,

    in therapeutischen Settings (wichtig ist zu unterscheiden, aus welchen Richtungen sie kommen) wird nicht vom Schwächeren gesprochen, der zur Therapie gehen soll. Man spricht beispielsweise in der systemischen Therapie vom sog. „Indexpatienten“: der/diejenige, die durch Symptome anzeigt, dass im System was falsch läuft. Unbedingt notwendig, Veränderungen im System herzustellen – man geht davon aus, wenn dieser Indexpatient etwas verändert, muss es das System aus.
    Widerspricht Ihrer Argumentation nicht wirklich, aber es war mir wichtig, dass der/diejenige, die Therapie sucht, nicht der/die Schwächere ist. Wahrscheinlich eigentlich der/die Stärkere – so fern es eigenständig entschieden ist, Therapie zu suchen.

    Viele Grüsse
    Stefanie Grams

  5. Industrie 4.0 ist für mich nur eine weitere Worthülse.

    Wenn man Industrie 3.0 als den Entwicklungsschritt betrachtet, in dem man z.B. schlechte Qualität von Produkten durch erhöhten Werbeaufwand kompensiert (siehe VoIP-Kampagne der Telekom) und das Internet durch Ermitteln von Bedarfsprofilen als eine hochwertige Werbeplattform („personalisierte Werbung“) positioniert wurde, was erwartet uns da wohl bei Industrie 4.0? Die Geschichte (Stanislaw Lem ~1975) von dem Roboter, der sich selbst an einen Kunden seiner Wahl liefert und den dann in den Selbstmord treibt, kommt mir da in den Sinn.

  6. Guten Morgen und spontane Gedanken.
    Opferanoden? Virtuelle Opferanoden in Verbindung mit jener Unsicherheit und Vorstufe von Angst die aus dem eventuellen Verlust innerhalb eines sozialen Systems geboren wird. Könnte DAS, was da kommt mich persönlich betreffen, vielleicht sogar meinen STATUS im System verschlechtern? Unkenntnis vor Veränderung. Lade einen Ausländer zu dir nach Hause für ein ganzes Wochenende ein – oder nur zum Kaffeetrinken und erwidere den Besuch. Undenkbar – in Deutschland – zumindest für die Meisten. Nimm ihn an der Hand und zeig ihm höflich die Regeln in unserem Lang – egal ob gut oder schlecht. Für viele Menschen ist Deutschland ein Kulturschock. Virtuelle Opferanode, virtuelle Sündenböcke, nur die aggressive Psyche und die Folge der Folge der FolgeN ist real. Wenn man selber von oben gedrückt wird, dann tut es gut wenn es unter einem auch noch ein paar zum Drücken, oder Unterdrücken gibt. Eigentlich besteht die Psyche ja aus 3 Teilen – ganz alleine Nachts im Bette, gemeinsam mit dem Lebenspartner, und in der Masse. Drei Teile und drei total verschiedene Verhaltensmuster – aber das ist schon wieder ein anderes Thema. Ich wünsche noch einen schönen Tag.

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