DD233: Legebatteriehuhn: „Früher war nicht alles besser!“ (Februar 2015)

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DD233: Legebatteriehuhn: „Früher war nicht alles besser!“ (Februar 2015)

Wie oft fahren wir aus der Haut, wenn so alte Menschen wie ich mit unwiderleglichem Wissenston apodiktisch diese eine eherne Wahrheit in den Raum stellen: „Früher war alles besser.“ Das ist, pardon, zum Kotzen. Dieselben Emotionen lassen sich im Tierreich beobachten. Erfahren Sie Neuigkeiten und Geschwätz aus einer Legehuhnbatterie. Dort stehen Hühner ohne zu viele Federn, eng gefangen in elenden Käfigen und versuchen, ihr täglich Ei aus einem wunden Hinterteil zu pressen. Sie fressen dabei unaufhörlich, um das nachhaltig für 12 bis 14 Monate möglich zu machen.

„Früher gab es Hähne, die waren wunderschön, man verliebte sich in sie.“ – „Wie sahen die bloß aus?“ – „Sie hatten stolzfarbene Schwanzfedern und konnten sehr laut krähen.“ – „Hört doch mit dem dummen Geschwätz auf, das sind Märchen. Was soll denn Liebe sein?“ – „Wenn ein Huhn vier Monate alt wurde, bekam es einen Hahn, und der Hahn schaffte es irgendwie, dass aus den Eiern, die wir legen, kleine Hühner herauskamen oder so.“ – „Wir wissen doch, was in den Eiern drin ist, ein weißgelber Matsch. Kein Huhn!“ – „Früher war alles anders, das sagen doch alle.“ – „Wer sagt das denn? Keiner von uns hat je einen Hahn gesehen – das wird immer nur erzählt und weitererzählt! Aber unsere erste reale Erinnerung ist, dass wir von Menschen großgezogen wurden, bis wir dann endlich einen eigenen Käfig bekamen. Das finde ich gut, weil ich jetzt nur mit ein paar Freundinnen zusammen bin und nicht mehr von anderen eifersüchtig gepickt werde.“ – „Du fühlst dich wohl schön, oder? Leg lieber dein Ei, schwatz nicht so viel rum.“ – „Ich lege viel mehr als ihr, ich bin eine Legehybride.“ – „Sind wir alle!“ – „Aber ich bin schön! Ich komme bestimmt bald in die erste Käfigreihe, wo ich fotografiert werde.“ – „Da kommen nur die adligen Hühner hin, das weißt du genau. Die legen nur Eier, wenn sie gerade Lust haben, ich glaube nur so 250 im Jahr. Lächerlich. Sie müssen nur für die Journalisten schön sein.“ – „Warum kommen Journalisten?“ – „Das sind Menschen, die immer nachprüfen, ob es uns gut geht.“ – „Aber warum prüfen sie dann nur Hühner, denen es echt gut geht, nicht uns?“ – „Sie sagen, bei Menschen ist das auch so, man schaut nach, ob es den Reichen gut geht, weil dann eine Ökonomystik oder so brummt.“ – „Ich will aber auch überprüft werden! Ich habe leider strunzdumme Mithühner hier im Käfig! Au, was soll das! Au, ich habe schon genug Wunden. Hilfe!“ – „Hört auf! Es dauert doch noch etwas, bis sie Antibiotika sprühen. Wir werden dadurch kaum krank, es geht uns doch gut. Es kann nicht jeder adlig sein, es muss doch auch Legehühner geben.“ – „Früher, mit Hähnen, war es bestimmt besser!“ – „Das sind Märchen!“ – „Nein, früher gab es noch Helden und Hühnen. Da liefen Hühner frei herum und hatten prächtige Hühneraugen.“ – „Und wer hat unseren Kot weggemacht, der jetzt so praktisch durch das Gitter nach unten durch die unteren Hühnerschichten fällt? Wer hat uns Antibiotika gegeben? Wer hat uns vor Füchsen und Habichten geschützt? Wer hat die Hühner gefüttert? Waren die Hühner denn früher auch so stolze Inzuchtlegehybriden wie wir? Konnten die denn auch 328 Eier pro Jahr legen?“ – „Sie haben viel weniger Eier gelegt und sind alt geworden, bis sie starben.“ – „Findet ihr das gut, so wenig zu leisten? Welchen Sinn hat solch ein faules Leben als Urhuhn niederster Herkunft? Schmissen die damals ihr Leben weg? Haben die Urhühner nur gechillt? Nein! Nein! Was denkt ihr denn? Ich glaube doch wohl, sie haben sich ohne Menschen ganz mühsam ihr Futter suchen müssen, oder? Sie werden ohne Käfige verhungert oder wilden Tieren zum Opfer gefallen sein. Stellt Euch einmal vor, die Menschen würden nicht täglich das Futter für uns heranschuften, wovon sollten wir denn leben?“ – „Früher gab es nur wenige Hühner, sagen manche.“ – „Und was ist damals mit den anderen passiert? Sind die von Füchsen gefressen worden?“ – „Ich frage mich nur, ob es wirklich Sinn des Lebens ist, Eier zu legen.“ – „Ja, natürlich, für das Futter! Und dafür muss man etwas leisten.“ – „Ja, ja, aber früher war es besser, oder?“ – „Du redest dauernd von Dingen, die niemand gesehen hat. Es gibt keine Hähne und es gab nie welche. Ich bin mit meinen 720 Quadratzentimetern glücklich, ich habe mehr Fläche als ein Blatt Papier. Die Menschen lieben uns. Wir müssten uns hier nur als Team besser vertragen.“ – „Aber es muss doch Hähne geben, weil einige Male Menschen gesagt haben, bei unserem Anblick würden sie sich nie mehr überwinden können, ein Brathähnchen auch nur anzuschauen.“ – „Das haben sie gesagt? Was ist ein Brathähnchen?“ – „Ich habe es gehört. Einer sagte: ‚Wer hier Hennen füttert, muss kotzen, wenn er ein Brathähnchen sieht.‘“ – „Meinen die damit, dass Hennen viel schöner sind?“ – „Nein, nein, Hähne waren wunderschön. Früher.“ – „Aha, da war alles besser, ja? Und die Menschen kotzen, wenn sie einen Hahn sehen? Früher! Früher! Euer blödes Früher! Früher! ist zum Kotzen. Reiner Aberglaube. Wenn ich das schon höre! Aaah, aaah, jetzt sprühen sie Desinfektion, da fühle ich mich wieder sauber. Fresst und legt!“

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12 Antworten

  1. Ist nicht von mir aber der passt:

    Sie können uns unsere Freiheit nicht entreißen, sie haben gelernt, wir würden uns wehren. Sie bringen uns aber dazu ihnen unsere Freiheit freiwillig zu überlassen.

  2. Die Verdopplung der menschlichen Lebenserwartung ist schon auch schön. Die Selbstgehirnwäsche, hier so treffend allegorisiert, hingegen gehört abgestellt. Raus aus den Konsumnebeln und rein in die Gewerkschaft!

  3. Die sollen sich mal nicht so anstellen, die Hühner. Schließlich: Es ist doch so perfekt für sie gesorgt: Gleichmäßiges Licht, geregelte Temperatur, mineralienoptimiertes hormonangereichertes Futter und isotonisches Wasser … – alles ist da. Verlässlich. Und die Habichte kommen nicht rein und die Füchse sowieso nicht. Sicherheit und Komfort im Überfluss! Wer, als Huhn, könnte mehr verlangen?
    Jaja, die tollen Hähne … Aber die Sache mit den Hähnen hatte ja oft genug ein anstrengendes Nachspiel. Das ganze Geglucke um die Küken, furchtbar nervenaufreibend! Und keine ruhige Nacht!
    Und die wissen ja auch ganz gut wie gut sie es haben, die Hühner. Und wenn mal, wegen Virus im Lüfterklappen- und Käfigtürensteuerungsprogramm die Tore zur Freiheit aus Versehen geöffnet würden, wieviele von dem komfort- und sicherheitsverwöhntem Federvieh würden dann tatsächlich in die Freiheit zu den wilden Hähnen entfleuchen und die Habichte und Füchse dafür in Kauf nehmen und auf portioniertes Hormonfutter freiwillig verzichten wollen? Genau.
    Und mit den spannenden Geschichten von wilden Hähnen kann man es sich doch auch genug sein lassen, was das Maß an Aufregung angeht. Als Huhn.

  4. Beim Lesen dieser grandiosen Fabel spürte ich förmlich den Kloß im Hals (nicht nur erkältungsbedingt ;-).

    Die Antithese “früher war alles besser” hört man aber genauso oft auch völlig ironie- und merkbefreit. Dann stellt sich mir immer die Frage, welches “Früher” eigentlich gemeint sein soll? Etwa eines, in dem selbstverständlich an sechs Tagen die Woche über 10 oder sogar 12 Stunden in der Fabrik geschuftet wurde, ohne bezahlten Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall? Eine zumeist hirnlose Plackerei, angeführt und schikaniert von patriarchalischen Vorgesetzten, die kein eigenes Denken duldeten (von Widerspruch ganz zu schweigen). An die Zeit nach dem Krieg, als alles in Trümmern lag? Oder an die Zeit vor dem Krieg, in der man erst von einer Weltwirtschaftskrise geplagt wurde und dann von den Faschisten?

    Wie weit man auch zurückschaut, ein “goldenes Zeitalter der Menschheit”, das manche wieder heraufbeschwören, kann ich nirgendwo finden, selbst die “fetten Jahren” des Wirtschaftswunders waren für viele kein Spaß, so sagte man mir. Sowohl von der Arbeitswelt als auch von den Lebensbedingungen allgemein her gesehen. Wollen wir wirklich wieder zurück in die Vergangenheit?

    Wie ich finde, sollte das Ziel der Gesellschaft sein, weder Vergangenes zu verbrämen noch den aktuellen Zustand gut- oder schlechtzureden, sondern sicherzustellen, dass der Fortschritt zum Wohle aller dient.

    1. Hallo Martin,
      sehe ich auch so.
      Zur Frage, welches Früher gemeint ist, gibt es eine klare Antwort: Das Paradies!
      Warum?
      Nun, nimmt man die Erklärung „Früher war alles besser“ in einem nach „Früher“ gerichteten Blick, so geht es Generation um Generation zurück. Und jedes Mal beim Generationenwechsel in Richtung „Früher“ muss es ja ein wenig besser gewesen sein (was auch immer besser gewesen sei?). Durch diese Reise zurück kommt man ganz selbstverständlich im Paradies an, von dem wir einstmals vertrieben wurden.
      Von diesem besseren Früher leben riesige „Religionsbranchen“, die uns das „Früher“ für das Leben nach dem Tode wieder versprechen. Man denke nur an die 99jährige Jungfrau, oder waren es doch 99 20jährige?? 😉

  5. @Janix
    Die Gewekschaft gehört zum Konsum – schon vergessen? – ohne Gewekschaft kein Geld – ohne Geld kein Konsum – also ist die Gewerkschaft ursächlich am Konsum schuld! 🙂

  6. Die eigenen Zensoren im Kopf, namens Scham und Furcht, sperren viele in ihren selbst gestalteten Käfig ein. Eine Idee steigt in den Kopf und man fühlt die Erziehung: „Der/dem ist etwas zu Kopf gestiegen“, bedeutet meist nichts Gutes.
    Isoliert betrachtet kann jeder Gedanke mickrig wirken, oder sehr abenteuerlich. Trotzdem wäre eine Kettenreaktion darauf denkbar. Vielleicht wäre gerade diese Idee, die in die Tat umgesetzt werden würde, in Verbindung mit einer anderen wichtig.
    Aber oft setzten wir sie nicht um aus Angst anders zu wirken, wenn wir so sind wie wir sind. Teilweise denken Menschen, mit Anfang zwanzig, so und sprechen darüber. Unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit dämpft und hält uns gefangen. Gesund wirkt der, der es schafft sich als ungefährlich, berechenbar und pflegeleicht zu präsentieren. Alles andere könnte zu kompliziert daher kommen und krank wirken. Also sei zufrieden mit dem was du hast und sei es nur dein Leben oder dein Hühnerstall. Es braucht Kraft und Mut offen seine Idee anderen zu zeigen, weil es angreifbar macht. Manchmal spart man sich die Energie, weil die Sache einem nicht wertvoll genug erscheint. Vielleicht hat mancher auch keine Lust mehr zu kämpfen und pflegt stattdessen lieber irgendetwas, was ihm sinnvoller erscheint. Ich finde darin nichts Verwerfliches.
    Der Impuls zu diesem Text wurde bereits 1788 verfasst. Daraus könnte man schließen, dass es früher auch nicht besser war.

  7. … wenn das vom egoistischen Gen stimmt, dann ist hier ein soziobiologischer Grundsatz erfüllt. Ohne Mensch würde das Hühner-Gen sich nicht so in Masse vermehren. – Wie übrigens alle anderen monokulturisch gezogenen Nahrungsmittel. Der Mensch: das Werkzeug?

    Noch ein Spruch von Carl Valentin:
    „Früher waren sogar die alten Zeiten noch besser.“

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