DD338: Hypokognition der Idealisten und Hyperkognition der Controller (April 2019)

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Der Begriff „Hypocognition“ stammt von Robert Levy, der 1973 in einem Buch seine Eindrücke seines langen Tahiti-Aufenthaltes wiedergab. Tahitianer haben keine Begriffe für zum Beispiel „Schuld“. Wenn sie sich schuldig oder traurig fühlen, empfinden sie sich als „krank“. Sie haben einen zu weiten Rahmen, der die Feinheiten nicht wiedergibt. Im Jahre 2004 warf George Lakoff den fortschrittlichen Kräften in den USA vor, sie litten unter „massiver Hypokognition“, weil sie immer nur verwaschen „weniger Staat“ oder „weg mit freien Märkten“ wollten, anstatt einmal einen präziseren Rahmen zu setzen, was sie genau anstrebten. (Unter Wikipedia englisch „Hypocognition“, im Deutschen gibt es den Begriff nicht so wirklich).

Da „hypo“ für „zu wenig“ steht, gibt es auch „hyper“ für „zu viel“. Hyperkognition ist dann das genaue Planen und Denken bis ins Einzelne.

Vieles an den heutigen Träumen ist wohl hypokognitiv. Die Menschheit soll systemisch denken, achtsam und nachhaltig sein, höhergebildet, agil, ambidextrous, verantwortungsvoll und empathisch, der Kapitalismus soll weg, das Geld auch, alle sollen gleich sein und jeder besonders sein dürfen. Es liegt einfach an der richtigen Ernährung.

Das alles regten die Religionsstifter auch schon an, aber beim Umsetzen fällt fast jede Idee, bestimmt aber jede große, den Hyperkognitiven zu Opfer. Denn das Ideale wird zum vermeintlich Perfekten umfunktioniert, was aber sowieso an der schwierigen Struktur des Menschen an sich und seines Verhaltens im Team oder in der Gesellschaft scheitert.

Der ideale Gottesglaube wird durch „ich glaube an den heiligen Geist, die heilige katholische Kirche“ perfektioniert (fehlt da noch das Wort „also“?), das Wirtschaften für den Wohlstand der Nationen des Propheten Adam Smith wird zum perfekten „vollkommenen Markt“ umgedreht. Aus der Völkervereinigung wird eine regelwütige EU.

Ach ja, es müsste eine Mittelschicht geben, etwas zwischen Hypo und Hyper, zwischen dem Ideal und dem verbissenen Hang zu Perfektionismus. Pragma vielleicht?

Hypokognitiv: „man müsste, sollte, könnte – ja dann“ (leuchtende Augen)

Hyperkognitiv: „und wie sieht es konkret aus, und ah, da ist ein Haken, dann nicht“ (fehlerstrengkonzentriertes Gesicht)

Quelle: Adobe Stock Photo

Wir retten die Menschheit, aber es muss datenschutzkonform geschehen…

In allen solchen Innovationsfragen treffen Hypokognitive auf Hyperkognitive. Innovationen zeigt man bekanntlich am besten den möglichen Kunden, um ein Gefühl für die realen Möglichkeiten zu bekommen. Dadurch bekommt die hypokognitive Idee die Chance, eine wirkliche Gestalt anzunehmen. Aber nein, vorher muss der Innovator beim Controller aufkreuzen, dem Inbegriff der Hyperkognition. Der Business Case, der dabei entsteht, beschreibt dann wieder zu sehr eine Paukschule oder eine Credit-Point-Uni, wo ursprünglich an Bildung gedacht war.

Hypokognitive: Denkt ein bisschen weiter und handelt zum Lernen.

Hyperkognitive: Denkt noch nicht zu Ende, was noch nicht durch Handeln gelernt wurde.

Das Ideale ist dem Perfekten nicht gleich.

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8 Antworten

  1. Lieber Herr Dueck,
    wie immer sind Ihre Statements im DD aller Ehren wert. Für mich haben Sie aber doch für Ihr Lieblingsthema „Wie wird Innovation behindert?“ recht weit ausgeholt.

    Deshalb hier ein Abstract eines Artikels von
    Kaidi Wu und David Dunning (University of Michigan), der im März 2018 in „Review of General Psychology“ erschienen ist:

    Hypocognition: Making Sense of the Landscape beyond One’s Conceptual Reach*
    People think, feel, and behave within the confines of what they can conceive. Outside that conceptual landscape, people exhibit hypocognition (i.e., lacking cognitive or linguistic representations of concepts to describe ideas or explicate experiences). We review research on the implications of hypocognition for cognition and behavior. Drawing on the expertise and cross-cultural literatures, we describe how hypocognition impoverishes one’s mental world, leaving cognitive deficits in recognition, explanation, and memory while fueling social chauvinism and conflict in political and cultural spheres. Despite its pervasive consequences, people cannot be expected to identify when they are in a hypocognitive state, mistaking what they conceive for the totality of all that there is. To the extent that their channel of knowledge becomes too narrow, people risk submitting to hypocognition’s counterpart, hypercognition (i.e., the mistaken overapplication of other available conceptual notions to issues outside their actual relevance).

    Diese Art der selektiven Wahrnehmung ist heute alltäglich geworden. Eine Bevölkerung mit verbreiteter Hypocognition ist der Traum aller Politiker und anderer Marketingexperten. Sie ist die Basis für die Wirksamkeit von manipulativen Botschaften aller Art. Und damit auch von Machterhalt.

    Ihre Schlusssätze sind sicher aller Ehren Wert. Schön wäre es schon. Aber ich denke nicht, dass wir es hier mit „Innovation vs. Controlling“ zu tun haben.

    1. Geehrter Herr Pilgram, Herr Dueck sagt es doch, es bräuchte „etwas dazwischen“; Patricia Pitcher hat es schon vor mittlerweile langer Zeit in ihrem Buch „Das Führungsdrama“ ausgedrückt: Es braucht eine Balance zwischen den Künstlern/Innovativen, den Handwerkern/im Dueckschen Sinne wohl den „Pragmatisten/Pragmatikern“ und den Technokraten/Controllern, denn leider geht es wohl weder ganz ohne den planerischen Blick eines „Zusammen-/Ver-walters“/Controllers und ganz besonders einer großen Anzahl von Pragmatikern – Deutschland war einmal dafür bekannt, dass es die Ingenieurskunst (!) hochgebracht hat; da dreht ein Jesco von Puttkamer dann halt so lange an der Turbopumpe des Raketenantriebs rum, bis es passt 🙂 (oder eben das Geld ausgeht…)
      Ich wünsche mir die Balance und weniger die rautenbehaftete Lethargie, die aktuell herrscht; da hilft auch kein bockiger Streik für mehr Didi, und Di-Didi überhaupt – wie es Blixa Bargeld in „Was ist, ist, nur was nicht ist, ist möglich“ so wunderbar besingt.

    2. Ich wollte gar nicht so viel zu Innovation sagen… im Titel steht ja auch „Idealisten“. Da gibt es eine Menge „guter“ Hypokognition rund um „Geld abschaffen“, DAX-Konzerne enteignen, Grundeinkommen raushauen…das ist auch sehr selektiv wahrgenommen. Und wie im Abstract (danke dafür) geschrieben steht: Die Idealisten merken es nicht, wenn sie hypokognitiv sind. Aber sie werden sehr aggressiv, wenn man ihnen das beibringen will.

  2. Unser eigentliches Problem ist also ein mentales: Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüßten, daß wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Während die Auswirkungen des technischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt und die Folgen der Demographie für die sozialen Netze auch andere Industrieländer, etwa Japan, heimsuchen, gibt es für den Modernisierungsstau in Deutschland keine mildernden Umstände. Er ist hausgemacht, und wir haben ihn uns selbst zuzurechnen.
    Das ist ein Zitat aus der „Ruckrede“ von Roman Herzog, die er am 26. April 1997 im Hotel Adlon, Berlin, gehalten hat.

  3. „Das Ideale ist dem Perfekten nicht gleich.“ Sicher, ja, das ist wohl so.

    Das Ideale und Perfekte haben aber auch gemein, dass sie etwa gleich weit weg sind – von der sich ständig ändernden – Realität (die auch noch völlig unterschiedlich von verschiedenen Menschen wahrgenommen wird, ansonsten wäre vieles viel einfacher, gleichförmiger zu Sachverhalte verstehen bei all den möglichen und üblichen Denkfehlern… egal ob das nun echt wünschenswert wäre oder nicht). Und die Realität ist „Gut“ und „Böse“ zugleich, Märchen lehren uns beispielhaft den moralischen Kompass. Die Wirklichkeit ist das, was der Einzelne oder auch das „Team“ (die Menschheit) daraus macht (bis hierhin gemacht hat), meist eben nur ein anderes, weiterentwickeltes „Gut“ und „Böse“, eine Mischform von beidem (ein Kompromiss, der in Folge neue Kompromisse erfordert), die den einen immer noch (oder derzeit) eher übervorteilt und den anderen eben eher benachteiligt (heute wahrscheinlich subtiler bzw. vielschichtiger als je zuvor und auch schneller veränderbar oder labiler – z.B. aufkommende Revolutionen/Verwerfungen durch AI (Aufrüstung), Existenz von Atombomben, voranschreitende (schleichende) Vernichtung von Lebensräumen und Lebenformen durch Großindustrie, Menschenmassenkonsum etc. …). Das verunsichert merklich, es gibt auch deswegen „Fridays for Future“. Der Mensch als Virus auf dem Weg zu anderen Planeten… hat die Erde bald verbraucht, den derzeit einzigen Platz, der Überleben „mittelfristig“ ermöglicht. Alles ein wenig zu groß für den einzelnen Menschen, das zu verstehen oder gar zu steuern, sich selbst zu platzieren und ebenso zu verhalten? Überall gibt es wohl soviel Zwang wie (angebliche) Freiheit.

    Was bedeutet Freiheit für Sie?

    Zadie Smith: „Existentielle Freiheit bedeutet für mich, sich möglichst nicht selbst zu täuschen. Sich selbst nicht zu belügen, was zu den schwierigsten Dingen im Leben gehört.“

    Wirtschaftliche Unternehmen schwören seit 10 Jahren meist eher auf Agilität („umsetzbare Innovation“), als auf durchgeplante, messbare Qualität (Kontrolle) einer Kundenlieferung und wollen so manövrierfähiger und kunden-orientierter, reaktions-schneller sein als zuvor. Nun gut, wenn der Kunde mit einer „80/20“ Qualität und dem Lieferumfang an sich zufrieden genug ist… der Pendel schlägt eigentlich nur zwischen schneller und besser (höher, schneller, weiter) jährlich hin und her, um den Firmenprofit zu erhöhen… bis der Kunde das mal nicht mehr mitmachen sollte oder es von aussen „disruptet“ (dann ist es meist zu spät für eine „erwachsene“ Firma da gegenzusteueren, sie kaufen lieber Innovation ein und stoßen die tote Cash-Cow ab)… das Ableben droht, die Übernahme, die Zerschlagung in profitable und unprofitable Sparten. Überhaupt steht Profit über allem. Profit = Macht. Aktienhandel dreht sich um erwarteten bzw. in Aussicht gestellten Profit. So werden Innovation und Controlling nur durch Macht instrumentalisiert und eben mal so oder so bevorzugt und speziell, punktuell nachgefragt. Der einzelne wird dabei instrumentalisiert durch sein soziales und wirtschaftliches Umfeld und Heimat/Herkunft, mehr als das er es sich dies selbst ausgesucht hätte?

    Die Menschen der sogenannten „westliche Welt“ sind derzeit und seit längerem tendenziell übervorteilt im Vergleich zum Rest dieser Welt, weil diese „westliche Welt“ wirtschaftliche und handels-rechtliche Stärke entwickelt hat, die den Rest der Welt faktisch und auch subtil unterdrückt. Wir erleben gearde Neuverhandlungen hier und dort und sowas wie den Brexit. China ist da eine Ausnahme, gegeben scheinbar schon durch die pure Größe dieses Staates. Und es gibt auch andere Staaten, die als sogenannte BRIC auf halben Wege sind Ihren Status merklich zu verschieben, relativ-umsatz-orientiert zu verbessern.

    Die Psyche des Einzelnen ist am Anfang besonders formbar und schlägt eben im Laufe des Lebens irgendwohin tendenziell mehr aus und verkrustet meist zunehmend, schon rein-biochemisch oder bio-physisch: ideologisierend da, innovations-feindlich dort – beides eine Art von Konservativismus, der eher innovations-feindlich zu sein scheint. Anfangs wählt man Grün oder doch noch sozial, später eher rechts? Innerlicher Kompromiss bedeutet dabei tendenziell eher Stillstand (aus Angst vor Veränderung, aus der Komfortzone, aus der Gewohnheit heraus) und extreme Haltung meint eben auch ggfs. die eher größere Veränderung (mit echten Gewinnern und Verlieren) und deswegen auch höherem Widerstand von außen. Der sprunghafte Charakter kann auch schnell auch abstoßend wirken, weil er Probleme hat autark und vertrauenswürdig zu wirken.

    Somit wird es ohne Streit niemals weitergehen. Evtl. aber mit Streit, bestimmt dann wenn er konstruktiv bleibt und nicht rein-persönlich wird!

    Willensstarke vor bitte.

    Ein Maximilien de Robespierre war so einer, bestimmt.
    Und auch er hat mit seinem Leben bezahlt, wie wir alle. So oder so.

    Willensstarke vor bitte, vor allem die, die „Empathie“ und Teilhabe, den Kompromiss können.

    Pragmatisch ist dann meist doch nur das, was profitabel ist, denn was pragmatisch sein soll bestimmt strukturell das Mgmt und das hat die Entscheidungsmacht. In diesem Rahmen bewegt sich dann der konkrete Pragmatismus als das Vertragen oder Ertragen zwischen „neu“ und „alt“.

    Lösen kann man das für sich selbst wahrscheinlich nur punktuell. Aber wenn man es doch schon nur im kleinen wie im Großen beschreiben kann, dann kann das schon mal beruhigen und einen eigenen moralischen Kompass begründen.

  4. Auch wenn Ideal und Perfektion sich unterscheiden, sind beide nur Krücken in einem komplexen Umfeld, oder um es mit Goethe zu sagen: es irrt der Mensch, solange er strebt …

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