DD352: Vor ihrem Tod igeln sich Unternehmen ein

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Wenn Igel angegriffen werden, igeln sie sich ein. Auch wenn sie nur in Ruhe gelassen werden wollen (z.B. zum Schlafen), rollen sie sich zu einer Stachelkugel zusammen. In dieser Haltung wehren sie Störungen und Angriffe ab. Die Kugel bildet eine kleine Festung. Sie zu erobern, ist im Prinzip möglich, aber der Angreifer wird durch die Stacheln ganz entmutigt. Er lässt es also bleiben, der Igel hat das Problem damit „ausgesessen“.

Ich will argumentieren, dass veränderungsunwillige Unternehmen sich ebenso „einigeln“. Die Bahn zum Beispiel übersteht jedes verbale Bashing unbeschadet – seit vielen Jahren. Sie ist und bleibt chaotisch und unfassbar unpünktlich. Wo soll man seine Kritik anbringen? Es ist ja alles gesagt worden, auch von jedem. Es geschieht aber nichts. Die Pünktlichkeitsstatistiken verschlechtern sich sogar weiter. Viele Unternehmen zucken gegenüber Kritik einfach mit den Schultern: „Wir haben zu wenig Personal.“ Irre lange Warteschlangen an der Sicherheitskontrolle? „Wir haben heute nur zwei Abfertigungsreihen, ein Kollege feiert seine Beförderung.“ Das haben wir hinzunehmen. Wut bringt nichts: „Was blaffen Sie mich an? Ich bin ja da und arbeite.“ Geht es nicht schneller? „Wir haben nur zwei Hände.“ Bei ALDI dagegen tut sich etwas, wenn jemand authentisch entrüstet oder nur bittend ruft: „Öffnen Sie eine weitere Kasse!“ Sofort tut sich etwas. Die Mitarbeiter übernehmen die Verantwortung.

Quelle: Pixabay

Warum dauert das Eröffnen eines Testamentes mehrere Monate? „Das ist so.“ Wir verstummen und warten verzweifelt. Warum dauert das Löschen einer Grundschuld etliche Monate und kostet mehrere hundert Euro? „Wir können nicht einfach gleich heute im Grundbuch einen Strich machen, dann würden Sie ja noch lauter schreien, dass es so viel kostet.“

Kennen Sie diese hochkochenden Emotionen, wenn man aufläuft – einfach so brutal aufläuft? Es ist die Entrüstung vor der Igelkugel. Niemand ist da, der zuhören würde, und wenn, dann würde er nur beschwichtigen und mit angelernten Worthülsen um Verständnis bitten. Die eingeigelten Unternehmen reagieren nicht mehr, weil jeder ihrer Mitarbeiter weiß, dass es hoffnungslos ist, auf Verbesserungen der Lage auch nur zu hoffen.

Es ist die Phase der Unternehmen vor ihrem Ende. Sie reagieren nicht mehr. Die Gewinne schrumpfen, weil sie schon lange mit „zu wenig Personal“ operieren, um der Krankheit zum Tode zu begegnen. Die Mitarbeiter legen sich ein dickes Fell zu und verschließen die Ohren vor den Kunden, von denen sie sich „unmenschlich wie Dreck behandelt“ fühlen. Die Vorstände harren aus, sie haben meist nur noch wenige Jahre, die sie ohne Kürzungen alter Pensionsverträge durchzustehen gedenken. Lobbyvertreter ganzer Branchen bitten die Kunden/Steuerzahler zur Kasse, um ihre Agonie durch Abwrackprämien zu verlängern. Unsinnige Verwaltungen sind zum Glück staatlich und arbeiten wie Untote unendlich weiter, weil sie nicht sterben können.

Eingeigelte Institutionen sind nicht mehr offen – verschlossen eben: wenig Sprechstunden und immer schön anklopfen. Da fällt mir ein, dass das Internet bei uns nicht ging. Zweimal wurde das nagelneue Kabelmodem gewechselt, die Kabelempfangsanlage durchgecheckt und neu initialisiert. Der Kundendienst riet mir, mich bei jedem neuen Mist sofort wieder zu melden, dass sei mein Recht und sie bekämen Aufträge. Bei der vierten oder fünften Störung meinte man, man würde nun den Vorgang dem Tiefbauamt melden, weil das Problem unter dem Teer liegen müsse – dann müssten wir halt mit dem Internet warten, bis mal wieder die Straße aus einem wichtigen Grund aufgerissen würde. Ich bekam fast gleichzeitig einen Marketing-Anruf, doch bitte sofort in den nur wenig teureren Business-Tarif zu wechseln, weil ich dann bei Störungen ein Recht hätte, dass diese kurzfristig beseitigt würden. Ich fragte, ob ich dieses Recht bei einem normalen Tarif nicht hätte. Das wussten sie nicht, ich sollte lieber auf Nummer sicher gehen.

Kennen Sie solche Geschichten? Es kommt rüber wie Ungerührtheit, Mangel an Empathie oder eben „ist so, kommt vor, ist mir auch schon passiert, Pech eben“. Und wir? Wir können nichts tun. Eingeigelt. Verklagen hat ebenso keinen Sinn, weil sich unsere Rechtssysteme schon lange (immer?) eingeigelt haben. Da zählen Jahre nichts. Ich habe schließlich seufzend und mit letzter Hoffnung ein gehobenes FRITZ!-Teil gekauft, angeschlossen und seitdem keinerlei Störungen mehr. Monate später kommt ein Brief mit der Feststellung, dass man per Ferndiagnose darauf schließen müsse, dass ich das vertraglich gestellte Kabelmodem gar nicht nutzen würde, weshalb es umgehend zurückzuschicken sei. Das bekommt bestimmt ein Neukunde. Nächstes Kapitel.

Ich will mit solchen Prozessleiden nicht bashen! Ich will nur erklären, dass in solchen unsäglichen Prozessketten keiner der Mitarbeiter oder Kundendienstler irgendeine Verantwortung in sich spürt, dass ein Problem vorliegt, das wirklich gelöst werden muss. Es ist für sie alle, wie es ist. Es gibt zu wenig Personal, da sind eben Löcher in der Straße. Sie tun nur ihre Pflicht, mehr geht ja nicht. Für das Ganze können sie nichts. Sie tragen keine Schuld.

Manchmal geht das Bashing einem Vorstand zu weit, und manchmal ist er zu jung und noch nicht eingeigelt. Dann kauft er sich Startups oder schaut sich welche an. „Wir wollen lernen, wie diese jungen Leute denken und handeln. Wir haben einen Arbeitskreis gegründet, der sie beobachten soll.“

Hilfe! Arbeitskreise oder Enquete-Kommissionen sind Mechanismen zum Einigeln! Taskforces und viele Sitzungen verdicken das Fell der großen Organisationen, deren Tod sich naht. Bei den Startups werden die Probleme einfach gelöst, denn alle wissen, dass sie sonst untergehen.

Einigeln heißt, dem gesunden Menschenverstand nicht mehr erste Priorität einzuräumen und in diesem Zustand ruhig schlafen zu können.

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ (Heine 1844). Oh, jetzt ist es wieder so weit. (Dueck 2019)

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8 Antworten

  1. Hallo Herr Dueck,

    die Ursachen Ihrer beschriebenen Miseren werden m.E. durch alte (oder auch neue) betriebene Insel-Anwendungen verursacht, die nicht zentral durchdacht wurden. Der massiven Datenflut, die qualitativ (meist) vernachlässigt wird (wurde), kann prozessoptimiert nicht mehr nachgekommen werden.
    Historische Daten (und auch neue Daten) so aufzubereiten, dass optimierte Prozesse entstehen können, werden sehr oft vernachlässigt oder isoliert behandelt und können somit selten kundenoptimiert und/oder sehr aufwendig angepasst/harmonisiert werden, damit hohen Nachfragen schnell nachgekommen werden kann.

    Dies ist meiner Meinung nach auch durch die vergangene Dezentralisierung von Systemen und Anwendungen verschuldet worden, da sehr viel isoliert gedacht und gehandelt wurde. IT-Infrastrukturen mit ihren Anwendungen wurden zu wenig Bedeutung zugemessen, was zum Teil immer noch so zu sein scheint. Vielen ist immer noch nicht klar geworden, dass sowohl IT-Infrastrukturen als auch Anwendungen (und auch die Menschen, die damit umgehen müssen) in vielen Fällen als entscheidungsrelevante Größen für den Bestand und für die Weiterentwicklung von Unternehmen/Organisationen viel mehr Bedeutung haben als ihnen zugewiesen wird.

    Es fehlt in vielen Fällen an entscheidenden Stellen ein übergreifendes Prozessdenken, einhergehend mit entsprechender Verantwortung im Umgang mit Infrastrukturen, Daten und den Skills von Menschen.

  2. Interessanter Artikel. Allerdings sehr bekannte Beispiele. Und: Auch nichtstaatliche Unternhemen und die unterhalb von Konzerngröße zeigen vermutlich dieses ‚Einigeln‘ vor dem Untergang. Dazu etwas zu lesen wäre auch spannend gewesen. Viellicht in einem weiteren Beitrag?

  3. Wieder mal genial! Genial einfach, genial realistisch. Auf den Punkt gebracht. Wenn man mal eine kurze Zeit in Ländern unterwegs ist, die unseren Wohlstand und unsere Sattheit nicht haben, sieht man oft, dass dort noch „was geht“. Es tut sich was. Man agiert oder auch reagiert, man ist flexibel, man hat ein Interesse am anders machen, besser machen, gut machen. Ich werde dann immer traurig und wütend zugleich, wenn ich an unsere deutsche Überheblichkeit denke, mit der wir uns das Leben selbst so verbauen…

    1. Das Selbstverständnis, mit dem sich jemand in eine gehobene Position setzt, ist insbesondere in Deutschland sonderbar. Da gebe ich Ihnen völlig Recht. Es geschieht nicht, um Verantwortung zu tragen und Dinge zu verändern, sondern um seine Ruhe zu haben vor den Unbilden eines unterdrückten Angestelltenverhältnisses. Sollen doch die Deppen die Drecksarbeit machen, die zu dumm sind, die Flucht nach oben anzutreten. Und schon etabliert sich eine Elite, die vor allem eines beherrscht: Sich von denen abzusetzen, die in ihren Augen weniger wert sind. Langmut, Weitsicht, Verpflichtungsgefühl – alles Fehlanzeige. Aber irgendwelche Quartalszahlen hat man irgendwie erreicht und sich von den wichtigen Ahnungslosen damit eine Kompetenz zuschreiben lassen, die eher einer mystischen Weihe gleicht. Vertrauenswürdigkeit wird nicht gemessen. Sie ist auch keine Bedingung, um aufzusteigen. Simon Sinek beschreibt das sehr eindrucksvoll in seinem Video auf YouTube: How do you measure success?

  4. (Die Vorstände harren aus, sie haben meist nur noch wenige Jahre, die sie ohne Kürzungen alter Pensionsverträge durchzustehen gedenken. )

    Hallo Herr Prof. Dueck,
    das glaube ich leider immer mehr. Ich hab da so meine kleinen Geschichtchen erleben dürfen

    Mit besten Grüßen
    m.r

  5. Schon das erste Beispiel ist falsch, denn die Bahn igelt sich keineswegs ein, sondern arbeitet an massiven Veränderungen. Allerdings muss man sich schon etwas Mühe machen und in der Fachpresse lesen, anstatt das Unternehmen nur oberflächlich zu betrachten, wenn man diese Veränderungen sehen will.

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